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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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hart. Ihre weiche Seite wollte sie dem an den Baum geketteten Mann nicht zeigen.
    »Halten Sie den Mund«, sagte sie. »Wir wollen nicht mit Ihnen reden. Was Sie denken und fühlen, interessiert uns nicht.« Ihre Stimme war so mitleidlos, dass Anna zu frösteln begann. Offenbar hatte sich McCaskil mit seinem Schuss auf Rory bei Joan ziemlich unbeliebt gemacht.
    Der Gefangene schwieg.
    »Ich habe ihn nicht gestohlen«, protestierte Geoffrey mit einem liebevollen Blick auf seinen riesenhaften Gefährten. »Einen Bären wie Balthazar kann man nicht besitzen. Er ist kein Gegenstand.«
    »Du bist mein Landkarten-Junge, richtig?«, fragte Joan.
    Als Geoffrey einige Male blinzelte, senkten sich lange, dunkle Wimpern wie Federn über weit auseinanderstehende haselnussbraune Augen. Schließlich verstand er, was sie meinte. »Ja, Ma’am. Ich dachte, wenn ich wüsste, wo das Futter ist, könnte ich Balthazar hinbringen und ihm zeigen, wie man es frisst.«
    »Du wolltest ihn also auswildern«, meinte Anna und dachte an die ausgegrabenen Gletscherlilien und die geernteten Großkopffalter. »Warum im Park? In Kanada und Alaska ist doch genug Platz.«
    »Weil Sie nicht erlauben, dass jemand im Park auf die Bären schießt«, gab Geoffrey knapp zurück.
    »Aha.« Dagegen ließ sich nichts einwenden. Man setzt einen Freund nicht an einem Ort aus, wo Mörder darauf lauern, ihn zu töten.
    »Warum hast du nicht um Hilfe gebeten?« Jahrelange Mutterschaft und das Mittragen kindlicher Schmerzen schwangen in Joans Tonfall mit.
    »Weil Sie nein gesagt hätten«, antwortete Geoffrey. »Alle hätten nein gesagt.«
    Weder Anna noch Joan waren so naiv – oder unehrlich –, ihm zu widersprechen. Der Bär gehörte jemandem. Geoffrey war minderjährig. Man hätte ihn aus den verschiedensten Gründen abgewimmelt.
    »Dieser Bär ist mein Eigentum«, meldete sich McCaskil wieder zu Wort. Beruhigt durch die Gegenwart anderer Menschen, in Sicherheit vor dem Bären und auf seltsame Weise befreit von der Verantwortung, sich entscheiden oder handeln zu müssen, gewann William McCaskil offenbar sein inneres Gleichgewicht zurück. Anna gefiel er besser, wenn er sich ängstlich zusammenkauerte und den Mund hielt.
    »Dort, wo Sie die nächsten fünfzig Jahre verbringen werden, sind Haustiere nicht gestattet«, entgegnete sie.
    Anna vermutete, dass William McCaskil tatsächlich der Eigentümer des Bären war, falls man ihn als Jungtier offiziell gekauft hatte. In der Broschüre wurden Woody und Suzanne Fetterman als Inhaber von Fetterman’s Abenteuerwelt aufgeführt. McCaskil war der Sohn einer Frau namens Suzanne. Anna nahm an, dass Fetterman Suzannes zweiter Ehemann und damit McCaskils Stiefvater gewesen war. Daher Fetterman als Alias. In Geoffreys Kindheit war er bereits ein erwachsener Mann gewesen. Aber offenbar hatte er seine Mutter oft genug besucht, um einem kleinen Jungen und einem kleinen Bären zuzusetzen. Anscheinend hatte McCaskil die Abenteuerwelt nach dem Tod des alten Fetterman geerbt.
    Diese Gedanken huschten rasch durch Annas Gehirn. Das ließ sich mühelos nachprüfen, weshalb sie beschloss, es nicht anzusprechen. Sie hatte nicht vor, William McCaskil irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
    »Mr McCaskil wollte Balthazar verkaufen«, verkündete Geoffrey.
    »Ich habe für ihn ein Zuhause auf einer hübschen Ranch in British Columbia gefunden, wo er frei herumlaufen kann«, erwiderte McCaskil selbstgerecht.
    »Boone und Crockett«, zischte Anna. »Balthazar wäre von irgendeinem idiotischen Trophäenjäger als wilder Bär abgeknallt worden. Wie viel hat man Ihnen denn geboten? Einhunderttausend? Zwei? Für einen kleinen Betrüger, wie Sie es sind, ein Vermögen. Oder konnten Sie noch mehr herausschlagen, weil sich Balthazar auf Kommando aufrichtet und brüllt, was die Sache noch dramatischer macht? Weil er sogar Angriff spielt, ohne dass für den Jäger ein Risiko besteht? Sie sind ein Schwein, McCaskil. Also seien Sie besser brav und halten den Mund, sonst werden Sie wegen Fluchtversuchs erschossen.« Für gewöhnlich verkniff es sich Anna, Gefangene zu beschimpfen, die sich in ihrer Obhut befanden. Die Verwünschungen, mit denen sie McCaskil überhäufte, hingen unmittelbar mit ihrem Entsetzen und ihrer Empörung zusammen. Über die Taschenlampe hinweg betrachtete sie das Wunder der Natur, das gerade friedlich eine rote Baseballkappe verspeiste, und stellte sich vor, dass es beinahe einfach zum Spaß und aus Großmannssucht

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