Blutköder
alt, als sie unbefangen, ganz klein und frei, unter dem endlosen Himmel von Montana lagen. Anna berichtete von ihrem neuen Freund in Mississippi, einem Sheriff, der nebenbei als episkopalischer Geistlicher tätig war und eine Frau hatte, die ihm die Scheidung verweigerte. Da das Sakrament der Ehe in Mississippi ernst genommen wurde, war eine Scheidung gegen den Willen eines der Partner nur aus drei Gründen möglich: Ehebruch, Straffälligkeit oder seelische Grausamkeit.
»Ich würde es als seelische Grausamkeit bezeichnen, jemanden zu zwingen, mit einem verheiratet zu bleiben, obwohl derjenige es nicht möchte«, meinte Rory und klang dabei, als spräche er aus Erfahrung.
Rory redete über seine Stiefmutter und schilderte den tollen Streich, den sie Les gespielt hatte: Sie hatte allen Gästen auf einer Party anvertraut, er habe eine Penisprothese, und den ganzen Abend Witze über das Aufpumpen gerissen.
Das sorgte für langes Schweigen, während Anna und Joan überlegten, was daran lustig sein sollte. Obwohl es Rory wichtig zu sein schien, dass sie mitlachten, brachten sie es beide nicht über sich.
Joan meinte, sie hätte gern einen Hund, was wegen des Wohnens im Park jedoch nicht gestattet sei. Wenn sie geahnt hätte, wie sehr man ihr dabei die Einsamkeit anmerkte, hätte sie ihren Wunsch wohl nicht erwähnt. Aber rücklings auf dem Felsen und nichts als die Sterne vor Augen, hatten sie die gesellschaftliche Regel, nicht zu emotional zu werden, über Bord geworfen, und verrieten es ihr nicht.
Erst nach Mitternacht krochen sie in ihre Schlafsäcke.
Ohne Vorwarnung öffneten sich Annas Augen. In der bedrückenden Enge des dunklen Zeltes konnte sie nichts sehen. Allerdings hatte sie etwas jäh aus dem Schlaf gerissen. Ein Geräusch. Ein Knacken. Holz auf Holz oder ein unter einem schweren Fuß zerbrechender Zweig. Oder unter einem Huf. Einer Tatze. Vielleicht auch Rory, der draußen in der Nacht einem menschlichen Bedürfnis nachgab. Andererseits hatte der arme Junge eine solche Angst vor den Geschöpfen der Wildnis, dass er es sich vermutlich bis zum Morgen verkneifen und in seinem vermeintlich sicheren Zelt ausharren würde. Nicht zum ersten Mal fragte sich Anna, warum ein junger Mann, der sich noch vor Gespenstern unter dem Bett fürchtete, Geld dafür bezahlte, um im Bärenland arbeiten zu können.
Noch nicht besorgt, wartete sie darauf, dass das Geräusch – die genaue Beschaffenheit hatte sie bereits vergessen und in dem Schlaf zurückgelassen, aus dem es sie so unsanft geweckt hatte – sich wiederholte und eine Bedeutung bekam, damit sie die inneren Wachhunde zurückpfeifen und die Augen schließen konnte.
Ein leises Ausatmen, das Seufzen des Windes oder eines geisterhaften Kindes, durchdrang die Zeltwand. Darauf folgte ein sanftes Scharren, als streife ein weicher Pinsel über Nylon. Anna hatte so etwas schon öfter gehört, wenn bepelzte Waldbewohner ihr einen nächtlichen Besuch abstatteten: Stinktiere, Waschbären, einmal sogar ein Stachelschwein. Deshalb kannte sie das Geräusch, das ihr Fell beim Kontakt mit Stoffen machte, während sie den Lagerplatz erkundeten.
Heute malte der Pinsel seine Striche hoch an die Zeltwand. Hirsch. Elch. Bär. Anna spürte, wie ihr das erste Prickeln die Wirbelsäule hinunterlief. Eine Millionen Jahre alte kollektive Erinnerung an nächtliche Verfolger regte sich tief in ihrem Stammhirn.
Lautlos streckte sie die Hand nach Joan aus.
Sie war sofort wach. »Was …«
»Pssst.« Anna lauschte. Obwohl sie ihre Zeltgenossin nicht sehen konnte und sie auch nicht mehr berührte, spürte sie, dass Joans Anspannung, ebenso wie ihre eigene, die Stimmung im Zelt auflud.
Ein schleifendes, huschendes Rascheln. Inzwischen kam es von allen Seiten, als umkreise das Tier ihr Zelt. Nicht nur einmal. Nicht, um alles zu erkunden und sich dann, die Neugier befriedigt, wieder aus dem Staub zu machen. Runde um Runde. Kein Laut, nur ein zartes Scharren und hin und wieder ein stimmloses Schnauben. Ein Bär. Grizzly. Schwarz. Ausgewachsen. Seine Schulter berührte den oberen Rand es Kuppelzelts aus Nylon.
Bei jeder Umrundung ließ Annas von Disneys Zeichentrickfilmen inspiriertes Gefühl der Solidarität mit ihren mit Zähnen und Klauen bewehrten Zeitgenossen nach. Es wich der Erinnerung an die blutrünstigen Bleistift-und-Tusche-Zeichnungen aus ihrer Collegezeit. Die Abbildungen hatten einen Sensationsbericht über zwei Frauen begleitet, die aus ihren Zelten gezerrt, zerrissen,
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