Blutköder
offensichtlicher Todesangst vor wilden Tieren umgehen sollte. Außerdem wurde ihr klar, dass das, was Joan vorhin für Grausamkeit gehalten hatte, ihre eigenen ungeschickten Versuche gewesen waren, sie ihm durch Neckereien zu nehmen. Ratlos richtete sie den Blick nach innen. Ein Bild stand ihr vor Augen. Sie war noch sehr klein gewesen. Ein widerlicher Junge namens Daryl Sparks, von Kopf bis Fuß mit Läusen übersät, hatte beim Picknick zum Schuljahresabschluss ihr Thunfischsandwich mit den Parasiten bestreut.
Mrs White, ihre Lehrerin in der ersten Klasse, hatte sie nicht wegen ihrer aufgebrachten Reaktion zurechtgewiesen, sondern das Sandwich genommen und sorgfältig jede einzelne Laus entfernt.
»Lass mal schnuppern«, meinte Anna und setzte den Rucksack ab.
Rory streckte in einer unverkennbar zur Überprüfung auffordernden Geste die Hände aus. Anna beschnupperte gründlich beide Arme bis zum Ellbogen. »Ich denke nicht, dass du etwas abbekommen hast«, meinte sie schließlich. Seine Augen waren zwar nicht mehr glasig vor Furcht, doch er war noch immer viel zu angespannt.
»Nur um auf Nummer sicher zu gehen«, fuhr Anna fort. Sie kramte ihre Flüssigseife aus dem Rucksack, übergoss seine Arme mit ihrem Trinkwasser und ließ ihn sich einschäumen und die Seife abspülen. Angst war tödlich. Anna hatte miterlebt, dass Menschen trotz des Fehlens lebensbedrohlicher Verletzungen daran gestorben waren. Bei Rory bestand diese Gefahr zwar nicht, aber Angst lenkte auch ab. Und das konnte sich beim Querfeldeinmarschieren ebenso als fatal erweisen.
Nach dem zweiten Händewaschen wurde der Riechtest wiederholt. »Falls doch Reste da waren, sind sie jetzt weg. Überzeug dich selbst.«
Rory beschnupperte seine Arme. Die Läuse waren fort.
»Was macht ihr denn da?«, rief Joan. Sie hatte sich umgedreht, bemerkt, dass sie allein war, und war umgekehrt.
Wieder zeichnete sich Schrecken auf Rorys Gesicht ab. Diesmal brauchte man kein Genie zu sein, um den Grund zu verstehen. Er wollte nicht, dass seine Chefin ihn für einen Feigling hielt.
»Rory hatte sich einen Splitter eingezogen«, erklärte Anna. »Wir haben ihn rausgeholt.«
Rory war ebenso wenig in der Lage, Anna für ihre ehrenrettende Lüge zu danken, wie sie es geschafft hätte, anderthalb Kilometer in vier Minuten zu laufen. Stattdessen half er ihr spontan beim Anlegen ihres Rucksacks. Anna wusste, dass diese Geste als Zeichen der Dankbarkeit gemeint war.
Sie folgten dem Rand der Schlucht, in der der Continental Creek floss. Bis jetzt waren sie durch die geschwärzten und staubigen Überreste des Waldbrandes marschiert. Diese Schlucht war von den Flammen verschont geblieben. Der Kontrast ließ die Vegetation noch wundersamer und üppiger erscheinen.
Am späten Nachmittag verließen sie das unwegsame Gelände und erreichten den ausgebauten und gepflegten West Flattop Trail. Hier war das Vorwärtskommen so einfach, dass Anna wohl Luftsprünge gemacht hätte, wäre ihr Rucksack nicht so schwer gewesen. Es gab nichts Besseres als ein bisschen Quälerei, damit man die kleinen Dinge des Lebens wieder zu schätzen wusste. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang hatten sie das verbrannte Gebiet hinter sich. Föhren säumten den Pfad und verbreiteten eine kühle, frische Luft und eine friedliche Stimmung, die Anna in der verkohlten Landschaft vermisst hatte.
Auf halbem Wege zwischen der nächsten Falle, die sie abbauen wollten, und der Stelle, die für die neue bestimmt war, schlugen sie ein Stück abseits vom Pfad ihr Lager auf.
Joan hatte ein idyllisches Fleckchen Erde, einen Dreiviertelkilometer entfernt vom West Flattop Trail, auf einer von Föhren und Fichten umringten Wiese ausgesucht. Ein höchstens dreißig Zentimeter breites Bächlein, an dessen Ufern seidige Gräser so weit über das Wasser wuchsen, dass man es kaum noch sah, schlängelte sich über die Lichtung. Es war so klein, dass es auf der Karte nicht verzeichnet war. So unerwartet, wie es in Gletscherregionen häufig vorkommt, erhob sich neben dem Bach ein gewaltiger Felsen mit sandfarbenen und grauen Streifen, als wäre er vom Himmel gefallen.
Da die Schönheit der Landschaft eine ebenso erfrischende Wirkung hatte wie Schlaf, blieben sie lange auf, legten sich nebeneinander auf den Felsen, beobachteten Sternschnuppen und erzählten sich belanglose Wahrheiten, wie es Fremde, die sich zusammen in der Wildnis wiederfinden, häufig tun.
Es gab keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich, jung und
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