Blutköder
mit denen gewöhnliche Parkpolizisten überfordert waren. Obwohl Anna diejenige war, an der im Fall von Problemen und Schwierigkeiten alle ihr Mütchen kühlen würden, hatte sie in der Hierarchie der Nationalen Parkaufsicht ziemlich wenig zu melden. Erst als oberster Leiter der Parkpolizei hatte man so etwas wie Macht.
»Ist er in Ordnung?«, erkundigte sich Anna.
»Harry Ruick? Schwer in Ordnung«, erwiderte Joan. »Ergreift Partei für die Bären, auch wenn die Öffentlichkeit nicht danach ruft.«
»Und wenn sie es tut?«
»Dann überschüttet er sie mit Experten.«
»Beteiligt er sich normalerweise an Suchaktionen?« Manche obersten Leiter der Parkpolizei krempelten weiter selbst die Ärmel hoch, doch die meisten verschanzten sich in ihren Büros. Vielleicht unternahmen sie ein paarmal im Jahr einen pressewirksamen Ausflug ins Hinterland, um nach dem Rechten zu sehen. Aber im Grunde genommen hatte sich der Posten eines obersten Leiters der Parkpolizei, insbesondere in den größeren Parks, in eine reine Verwaltungsstelle verwandelt.
»Normalerweise nicht«, räumte Joan ein.
Die Suche dauerte noch keine drei Stunden, und schon mischte die Chefetage mit. Anscheinend hielt Harry Ruick Van Slyke für tot.
Um acht Uhr begann es zu nieseln. Da sich die Augustwärme nicht gegen das schlechte Wetter und die Höhenlage durchsetzen konnte, erreichten die Temperaturen keine fünfzehn Grad. Die niedrig hängende Wolkendecke verhinderte Unterstützung aus der Luft. Es regnete zwar nur leicht, und es war auch kein Wind aufgekommen, doch die Sichtweite auf dem Flattop war auf nahezu null gesunken.
Joan funkte Ruick an, der den Suchtrupp anführte, und teilte ihm mit, dass sie nichts gefunden hatten. Er riet ihnen, etwas zu essen, sich auszuruhen, sich aufzuwärmen und gegen Mittag auf dem West Flattop Trail mit den Reitern und dem restlichen Team zusammenzutreffen.
»Rorys Vater und seine Stiefmutter zelten in Fifty Mountain«, sprach Joan ins Funkgerät. »Ist jemand hingeschickt worden, um sie zu benachrichtigen?«
»Wir arbeiten daran«, erwiderte Ruick. Joan ließ es dabei bewenden.
Sie hielten sich an die Anweisungen, aßen, so viel sie konnten, ruhten sich aus und marschierten dann hinunter zum Pfad. Das Wetter ließ es sich nicht nehmen, seine üble Laune mit ihm zu teilen: Es war kühl und regnerisch. So warm, dass man in Regensachen bald völlig durchgeschwitzt war, und gleichzeitig so kalt, dass man zu frieren begann, wenn man nass wurde. Was Anna betraf, war es ein Tag, dem man rein gar nichts abgewinnen konnte.
Kurz vor zwölf Uhr mittags stießen sie auf den Suchtrupp und führten ihn den guten Kilometer zurück zu ihrem Lagerplatz.
Ruick hatte im Sattel keine Zeit verschwendet. Auf dem Ritt hierher hatte er das Suchgebiet festgelegt und eine Vorgehensweise entwickelt. Die Gegend rings um die Lichtung, von der Rory verschwunden war, wurde in Quadranten eingeteilt. Wie Anna auffiel, waren sie ziemlich klein. Ruick rechnete mit einer Leiche, nicht mit einem jungen Mann, der in der Lage war, weitere Strecken zurückzulegen.
Anna und Joan begleiteten den Polizeichef in den Sektor westlich des Trapper Peak und südlich des Steilhangs, der am McDonald Creek endete. In den meisten Fällen ließ die Kondition von Vorgesetzten zu wünschen übrig. Einige verweichlichten aus Faulheit, doch nicht wenige hatten sich in ihrer mit Bergsteigen und Wildwasserfahrten verbrachten Jugend Kniegelenke und Knöchel ruiniert. Wie ausgemusterte Football-Spieler wurden sie dann nachlässig und legten an Gewicht zu, wenn sie ins mittlere Alter kamen. Als der Nachmittag voranschritt, wünschte Anna zunehmend, auch Harry Ruick wäre dieses Schicksal zuteil geworden. Schließlich gehörte er nicht zu der Generation der Wunderkinder, die schon in ihrer Jugend eine Blitzkarriere hingelegt hatten. Anna schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Sein dunkles Haar war grau meliert, und am Halsausschnitt seines offenen Uniformhemdes war zu erkennen, dass der dichte Pelz auf seiner Brust völlig weiß geworden war. Ruick war zwar kein hochgewachsener Mann, aber gebaut – so hätte Annas Vater es ausgedrückt, wenn er frei von der Leber weg redete – wie ein gemauertes Scheißhaus: quadratisch, gedrungen und steinhart.
Ruick legte ein gnadenloses Tempo vor, ein Kompliment an Anna und Joan, da er offenbar nicht an ihrer Fähigkeit zweifelte, mithalten zu können. Weil sie nicht mit Gepäck beladen waren, denn sie hatten außer Trinkwasser
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