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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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steckte das Funkgerät zurück an den Gürtel und schritt rascher aus.
    Gary Bradley hatte im offenen Funkverkehr nicht sagen wollen, was er gefunden hatte. Genau das Verhalten, das bei anderen den Verdacht weckte, dass eine Leiche im Spiel war.
    Anna seufzte auf. So viel zum Thema heißer Kakao.

5
    Laut Annas innerem Schrittmesser hatten sie etwa drei Kilometer zurückgelegt, als sie mit dem Mann namens Vic zusammentrafen. Ein vierzigminütiger Fußmarsch. Die Sonne war zwar schon hinter dem Nahsukin Mountain untergegangen, aber der Schnee auf dem Trapper Peak reflektierte noch immer geschmolzenes Feuer. So hoch im Norden dauerte die Dämmerung eine Weile.
    Vic gehörte auch zu Ruicks Saisonmitarbeitern. Vier Monate Dienst, acht Monate frei. Wirtschaftsnomaden wie er wurden oft mit entwurzelten College-Studenten verglichen, die – geschützt durch das Sicherheitsnetz des elterlichen Einkommens – Lebenserfahrung sammelten. Doch das stimmte schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr. Gewiss nicht, seit Anna ihre erste Stelle angetreten hatte. Vic war Ende dreißig. Ein goldener Ring an der linken Hand wies ihn als Ehemann aus. Vermutlich musste er eines oder zwei Kinder ernähren und wartete darauf, dass die Parkverwaltung ihm eine volle Stelle mit Sozialleistungen anbot.
    Der Saisonmitarbeiter, ein hässlicher Mann, walzenförmig, steif und mit einem spitz zulaufenden Kopf, begann zu winken, sobald sie auf dem Pfad erschienen. Er wedelte mit beiden Händen und rief ihnen zur Begrüßung etwas zu. Angesichts des Empfangs, den er ihnen bereitete, vermutete Anna, dass die Lage doch nicht so ernst war wie befürchtet.
    Als sie jedoch nah genug herangekommen waren, um ihn richtig sehen zu können, erkannte Anna, dass nicht die Freude über ihre Ankunft den hölzernen Zeitgenossen so in Aufregung versetzt hatte. Es war Erleichterung. Er hastete ihnen entgegen und redete etwas von Uhrzeit, Entfernung und Steinschlägen, von dem sie nur die Hälfte verstanden. Ohne auf Anna und Joan zu achten, blieb er vor dem Polizeichef stehen. Obwohl er keine zehn Meter gerannt war, war er außer Atem. Sein langes Gesicht mit den zusammengeschoben wirkenden Zügen hatte eine fahle Färbung angenommen, und er schwitzte heftig. Anna stieg der unverkennbare Geruch von Erbrochenem in die Nase, den sein erhitzter Körper ausdünstete.
    »Immer mit der Ruhe … Vic.« Ruick las den Namen des Mannes von dem Messingschild auf seiner linken Brusttasche ab. Harry Ruick hatte die höheren Sphären der Karriereleiter erklommen, in denen man mit dem Namen eines Untergebenen nur selten ein Gesicht verband.
    Auch wenn der Polizeichef die Namen seiner Saisonmitarbeiter nicht kannte, verstand er etwas von seinem Beruf. »Schwebt jemand in Lebensgefahr?«, erkundigte er sich in gelassenem und selbstbewusstem Ton.
    »Nein«, räumte Vic ein, »aber …«
    »Dann gehen wir die Sache mal ein bisschen langsamer an. Ich weiß nicht, was mit den beiden ist« – er wies mit dem Kinn auf Anna und Joan – »doch ich brauche eine kleine Verschnaufpause.« Der Pfad, wo Vic sie erwartet hatte, verlief am nördlichen Rand des verbrannten Gebietes entlang. Im Süden versank eine verkohlte Landschaft, aus der rußige Baumstümpfe in den Himmel ragten, langsam in tintenschwarzer Dunkelheit. Anna, die diesen traurigen Anblick nicht mehr ertragen konnte, schaute nach Norden, wo der Berg, grün, steingrau und steil, in die vom Kootenai Creek in den Fels gegrabene Schlucht abfiel. In blauen samtenen Nebel gehüllt, stürzten die Rockies ins Waterton Valley und in Richtung Kanada hinab wie auf ewig erstarrtes Wasser. Zum ersten Mal hatte Anna das Gefühl, wirklich auf einem Berg zu stehen. Die Reste der Schlechtwetterfront hatten sich unterhalb des Flattop Mountain gehalten. Regenwolken klebten an den weiter entfernten Hängen der Berge. Die von der Sonne beschienenen Gipfel leuchteten rosafarben, die tieferen Lagen waren grau und saugten die Nacht von den Tälern auf.
    Weil Anna von dieser paradiesischen Aussicht so gebannt war, bemerkte sie erst jetzt, dass sie allein dastand. Harry hatte Vic zu einem umgestürzten Baumstamm gelotst. Nun saß der Mann zwischen seinem Vorgesetzten und Joan. Offenbar empfand er die Autorität des einen und die bloße Anwesenheit der anderen als beruhigend. Anna hatte nichts beizutragen und blieb deshalb, wo sie war, wohl wissend, dass die Freude, die sie angesichts dieser so gar nicht zur Situation passenden Schönheit der Umgebung

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