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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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empfand, nicht von Dauer sein würde. Die grausigen Dinge, die Menschen einander durch ihre Einmischung antaten, würden dem Hochgefühl bald ein Ende bereiten.
    Dabei verschloss Anna die Augen nicht vor der Tatsache, dass sie im Fall Rory zu denen gehörte, die sich am meisten eingemischt hatten. Sie würde sich zwar nicht schuldig am Tod des Jungen fühlen, allerdings den starken Verdacht haben, dass sie etwas falsch gemacht und sich nicht nahtlos genug in das Regelwerk der Natur eingefügt hatte.
    Ruick stand auf und kam auf sie zu. »Vic bleibt hier bei Joan. Heute Nacht können wir nicht mehr viel ausrichten. Er ist ziemlich erschüttert. Sie kommen mit mir.«
    Das Bärenteam hatte die Stelle, an der sie den West Flattop Trail verlassen mussten, mit orangefarbenem Flatterband markiert. Den beiden Flatterbandstückchen zufolge führte die Strecke die von Geröll und Erlen bedeckte Flanke einer Schlucht entlang, die den Berghang durchschnitt. Anna hoffte, dass Harry ihr keinen allzu langen Fußmarsch abverlangen würde. Es war ihr zwar gelungen, ihren müden Körper zu überlisten, sodass sie das ziemlich anspruchsvolle Tempo mithalten konnte. Doch sollte sie den Berg, den sie nun hinunterrutschte, ein weites Stück wieder hinaufsteigen müssen, würde man ihr die Erschöpfung eindeutig anmerken. Und falls Harry auch noch von ihr erwarten sollte, dass sie einen Toten trug, drohten ernsthafte Schwierigkeiten.
    »Die Jungs haben eine Leiche gefunden.« Da Ruick sprach, während sie den Abhang hinunterschlidderten und sich dabei an mageren Erlen festhielten, wurden seine Worte mit dem Schnellen losgelassener Zweige zu Anna zurückgeschleudert. »Laut Vic ist sie ziemlich verstümmelt und hat eigentlich kein Gesicht mehr.«
    Menschen lebten hinter ihren Gesichtern. Opfer mit verstümmelten Gesichtern machten Rettungskräften um einiges mehr zu schaffen als abgetrennte oder zerschmetterte Gliedmaßen. So ungerecht es auch sein mochte, verwandelte ein entstelltes Gesicht den Toten in ein Ungeheuer der grausigsten Art, das man gleichzeitig fürchtete und bemitleidete.
    Anna war froh, dass Joan zurückgeblieben war, um den Saisonmitarbeiter zu bemuttern. Falls sie nicht um einiges härter war, als Anna glaubte, würde sie in den verwüsteten Zügen ihren Sohn Luke sehen und ein Jahr lang an Albträumen leiden. Ein weiterer ausgezeichneter Grund, auf Kinder zu verzichten: Es war so bedauerlich, wenn sie von wilden Tieren aufgefressen wurden.
    »Haben Sie Rorys Eltern schon verständigt?«, fragte sie, weil ihr Verstand gerade in familiären Bahnen lief.
    »Es ist nicht unser Junge.«
    Sie kletterten weiter in die Nacht hinein. In dichtes Unterholz, wie Raubtiere es bevorzugen. Anna verbot sich, an das Gebrüll zu denken, das sie so jäh aus dem noch am Vorabend gepflegten trügerischen Gefühl von Zivilisation gerissen hatte. Stattdessen richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, nicht auszurutschen und sich nicht von dem Gewirr aus tief hängenden Zweigen das Gesicht aufschlitzen zu lassen.
    »Bär! Hallo, Bär!« Der Ruf holte Anna unsanft aus ihrer nur aufs Überleben gerichteten Eingleisigkeit. Die Angst durchfuhr sie so heftig, dass sie ruckartig stehen blieb.
    »Wir sind es, Gary«, erwiderte der Polizeichef.
    »Gott sei Dank«, antwortete eine Stimme.
    »Gott sei Dank«, wiederholte Anna.
    Kurz darauf erreichten sie eine Lichtung, kaum größer als ein Wohnzimmerteppich. Gary Bradley stand, die Taschenlampe erhoben, vor einer Leiche wie eine Gestalt aus einem Horrorfilm.
    Da das letzte Tageslicht im Westen verschwand, kramte Anna ebenfalls ihre Taschenlampe aus dem Rucksack. Im nächsten Moment blendeten die drei einander, um sich zu vergewissern, dass es wirklich mehr oder weniger menschliche Gesichter waren, die sich da um die Leiche scharten.
    Gary war unter seinem Bart erbleicht, sodass seine Lippen im grellen Schein der Taschenlampe blutleer wirkten. Anna merkte dem jungen Mann an, dass er sich in Harry Ruicks Gegenwart zusammennahm. Mit einem toten Menschen und dem Verursacher seines Ablebens in der unheimlichen Dunkelheit allein zu sein hätte wohl jedem Angst eingejagt. Bradley war offensichtlich froh, Gesellschaft zu haben. Und noch froher, die Verantwortung abgeben zu können.
    »Wir haben den West Flattop Trail abgesucht«, berichtete er. »Da hat Vic etwas bemerkt, das wie Schleifspuren aussah. Sie wichen dort, wo er Sie getroffen hat, vom Pfad ab. Wir sind ihnen gefolgt und haben das hier gefunden.

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