Blutköder
Sie.«
Anna stand etwa zwei Meter von der am Boden zusammengesackten Gestalt entfernt und wartete auf Anweisungen. Als Ruick in die Hocke ging, bewegte sie sich ein Stück und richtete ihre Taschenlampe auf die Leiche, damit er besser sehen konnte.
Die tote Frau lag mit angezogenen Beinen auf der Seite, als schliefe sie. Ihr rechter Arm bedeckte ihr Gesicht. Blondes, schulterlanges Haar, dauergewellt und gefärbt, quoll unter einer roten Schirmmütze mit Coca-Cola-Logo hervor. Sie trug eine zu große Militärjacke. Ihre Beine waren zwischen dem Saum der ausgestellten, rockähnlichen Shorts aus Rayon und dem oberen Rand ihrer Bergstiefel nackt. Anna konnte kaum Blut ausmachen. Vermutlich war es im Boden versickert.
Ruick verhielt sich ruhig und gelassen. Seine Art war bedächtig, seine Sprechweise unaufgeregt. Anna hatte so etwas schon hundertmal erlebt und selbst mindestens ebenso oft zu diesem Mittel gegriffen. Dennoch empfand sie es als erleichternd. Ruick hatte die Sache im Griff. Die Hilfe war da.
Harry tastete nach der Karotidarterie.
»Das haben wir als Erstes überprüft«, sagte Gary. »Sie ist meiner Schätzung nach schon seit einer Weile tot. Außerdem war sie ziemlich kalt. Doch das könnte am Regen liegen.«
»Ausweispapiere?«
»Wir haben jedenfalls keine gefunden.«
Ruick reichte Anna seine Taschenlampe. Sie richtete sie ebenfalls auf die Leiche, während er die Tote vorsichtig umdrehte.
Als die Frau auf den Rücken rollte, wandte Gary sich ab. Da er sie sich bereits angesehen hatte, zog er es offenbar vor, das nicht zu wiederholen. Annas Blick wanderte von dem Saisonmitarbeiter zu der Toten. Sie wünschte, sie wäre seinem Beispiel gefolgt, und schaute rasch hinauf zu demselben Stück Himmel, das Gary gerade musterte.
»Wir haben angefangen, sie umzudrehen, Sie wissen schon, um festzustellen, ob sie … Dann haben wir uns gedacht, wir lassen sie lieber in Ruhe. Ein Bär hat sie angefressen«, stammelte Gary, die Augen immer noch an den Ort geheftet, den die Götter ihr Zuhause nennen.
Seine Worte brandeten über Anna und Harry hinweg, die in ihrem eigenen Grauen gefangen waren. Die Frau hatte nur noch ein halbes Gesicht. Von ihrer linken Augenbraue bis hinunter zum Kiefer erstreckte sich eine zerfetzte Masse. Wangenknochen und Zähne lagen frei. Knochen und Zahnschmelz waren mit getrocknetem Blut braun verkrustet. Das Auge lag noch in der Höhle und starrte sie milchig und böswillig an. Das Fleisch darum herum war weggekaut.
Weggekaut. Anna rückte näher heran, kniete sich neben Harry und leuchtete das Gemetzel mit beiden Taschenlampen an. »Werfen Sie einen Blick auf die Wundränder. Hier und hier.« Sie wies auf den Schnitt an der Stirn und die senkrechte Wunde, der die halbe Nase der Frau zum Opfer gefallen war. »Sie wurde nicht angefressen. Hier war ein Messer beteiligt, ein Rasierer, eine Axt, jedenfalls eine Waffe.«
Ruick kauerte weiter reglos auf den Fersen, bis Anna die Knie wehtaten. Doch sie blieb auf ihrem Posten und hielt die Lampen ruhig.
»Mir wäre ein Bär lieber«, sagte Ruick schließlich. »Es wäre mir verdammt noch mal wirklich lieber, wenn es ein Bär gewesen wäre.«
»Sie ist von einem Menschen umgebracht worden?«, fragte Gary. Zum ersten Mal hörte Anna die Empörung heraus, ein Gefühl, das sie mit ihm teilte. Wer beruflich mit wilden Tieren zu tun hatte, würde vermutlich nie aufhören, es als tragisch zu empfinden, wenn eine Begegnung zwischen den beiden Arten tödlich endete. Allerdings schwang in dieser Tragik niemals etwas Böses mit. Zumindest hätte Anna diese Aussage bis letzte Nacht jederzeit unterschrieben. Doch seitdem hatte das eigenartige Gefühl von ihr Besitz ergriffen, dass dieses Tier nicht nur wild, sondern mutwillig grausam gewesen war. Mit Menschen, die andere Menschen töteten, war es hingegen eine völlig andere Sache, denn in solchen Fällen hatte das Böse immer seine Hand im Spiel. Manchmal nur indirekt wie bei Soldaten, die bis zum Tode für die Ideale anderer kämpften. Aber es war immer vorhanden.
»Macht mir auch diesen Eindruck«, meinte Harry. »Haben Sie den Rest der Leiche untersucht?«
»Nein, Sir, nur das Gesicht.« Das hatte Gary offenbar gereicht.
Ruick wippte auf den Fersen. Im Licht der Taschenlampen betrachtete er erst Gary, dann Anna und fällte eine Entscheidung.
»Anna, geben Sie Gary die Taschenlampen und helfen Sie mir. Gary, Sie leuchten uns. Ein Diktiergerät hat vermutlich niemand dabei? Oder Papier und
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