Blutköder
erwiderte Ruick. »Wir können sie schlecht liegen lassen. Aber wir werden verlieren, egal, wie wir es machen. Schaffen wir sie weg, zerstören wir dabei mögliche Spuren. Tun wir es nicht, nehmen die Aasfresser uns die Arbeit ab. Das könnte trotzdem passieren. Der Blutgeruch lockt bestimmt einige Besucher an.«
Sie hatten nichts, in das sie die Leiche hätten einwickeln können. Um sich das Tragen zu erleichtern, streiften sie ihr die Ärmel von den Armen, zogen den Reißverschluss zu und banden die Ärmel dann vor der Brust zusammen. Anna sicherte die Füße, indem sie einfach die Schnürsenkel miteinander verknotete.
Harry Ruick nahm den Kopf, Gary Bradley die Füße. Anna hatte die undankbare, aber nicht schwierige Aufgabe, ihnen den Weg zurück den Berg hinauf zu leuchten. Die Leiche war weniger als hundert Meter entfernt von der Straße entdeckt worden, weshalb es nur eine Viertelstunde dauerte, die Strecke keuchend und stöhnend zurückzulegen.
Während ihrer Abwesenheit war Joan nicht untätig gewesen. Inzwischen waren die anderen Mitglieder des Suchtrupps auf dem West Flattop Trail eingetroffen. Es war zwar zu spät und zu dunkel, um zu Annas und Joans Lagerplatz zu marschieren und ihre Sachen zu holen, doch das Bärenteam hatte drei Zelte aus seinen eigenen Beständen mitgebracht und etwa fünfhundert Meter vom Pfad entfernt ein Lager aufgeschlagen, damit Parkbesucher es nicht bemerkten und sich davon in ihrem Naturerlebnis gestört fühlten. Joan erwartete sie auf dem Baumstamm, wo sie vorhin mit Vic gesessen hatte, um sie zu dem neuen Lagerplatz zu führen.
Obwohl sie einander gerade einmal fünf Tage kannten, war Anna ausgesprochen froh, Joan zu sehen. Sie ging mit ihr voran und überließ es den Männern, sich auf der ebenen Wiese, die an das verbrannte Gebiet angrenzte, mit ihrer Last abzumühen.
»Also war es eine Frau«, stellte Joan fest.
Anna hörte ihr die Anspannung und Erschöpfung an und wusste, dass sie sich nur noch durch schiere Willenskraft auf den Beinen hielt. Muskeln und Knochen waren am Ende ihrer Kräfte angelangt. Joan Rand war zwar ziemlich gut in Form, schleppte aber zehn Kilo zu viel mit sich herum. Der Großteil war nach Annas Vermutung Herz. Joan hatte den Schmerz ertragen, Anna nur harte Arbeit und ein paar Gramm Grauen. Entweder war sie herzlos geboren oder im Laufe der Jahre immun gegen die Tragödien ihrer Mitmenschen geworden.
»Eine Frau«, bestätigte sie.
»Wissen wir, wer sie ist?«
»Noch nicht.«
»Ich war so erleichtert, dass es nicht Rory ist, dass ich vergessen habe, Vic zu fragen, ob wir sie kennen«, meinte Joan, als müsse sie einen Fehler eingestehen.
Rory Van Slyke. Anna hatte keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet, seit der Polizeichef die Leiche als »nicht unser Junge« bezeichnet hatte. Wenn irgendein Mitglied des Teams auf Rorys Spur gestoßen wäre, hätten sie es sicher bereits erfahren. Also war er immer noch da draußen, verirrt, verletzt oder gar tot.
»Wenigstens können wir jetzt sicher sein, dass unser Bär – vorausgesetzt es war derselbe – weitergezogen ist«, sagte Joan. »Falls er Rory getötet und ihn versteckt hätte, hätte er sich irgendwo in der Nähe häuslich eingerichtet, um ihn vor Ort aufzufressen.« Diese Logik im Verhalten eines Bären schien sie beträchtlich aufzuheitern. Anna wollte dem einen Riegel vorschieben. Nicht, weil sie selbst schlechter Laune gewesen wäre und andere damit anstecken wollte. Es lag eher an ihrem Respekt vor Joan, und sie fand, dass sie ein Recht auf die Wahrheit hatte. Außerdem vermutete sie, dass sie es lieber im Schutz der Dunkelheit von einer anderen Frau hören wollte als im Lager, grell beleuchtet von Gaslaternen und unter den Augen von Männern.
»Die Frau wurde weder von unserem noch von sonst einem Bären getötet, sondern mit einer scharfkantigen Waffe zerstückelt. Ein Mensch hat sie umgebracht. Oder ein Wesen mit beweglichen Daumen, das sich als Mensch ausgegeben hat.«
Das Lager war ein Stück voraus. Laternen brannten, und vier Männer und eine Frau eilten zielstrebig hin und her. Man hatte drei Zelte aufgebaut, und das vertraute Zischen eines Gaskochers drang Anna ans Ohr. Obwohl sie sich als Umweltschützerin betrachtete, hätte es sie beträchtlich aufgemuntert und ihr Hoffnung gegeben, wenn sie von einem riesigen, knisternden Lagerfeuer empfangen worden wären, das sie aufwärmte und die Ungeheuer der Dunkelheit vertrieb. Allerdings hätte sie in Gegenwart dieser
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