Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
Öko-Puristen nie gewagt, solche primitiven Bedürfnisse zu äußern.
    »Hier wären wir«, verkündete Joan und hielt an. Ruick und Bradley trugen die Leiche an ihnen vorbei ins Lager wie Jäger die Beute des heutigen Tages.
    »Hast du mich gerade verstanden?«, fragte Anna, als Joan sich nicht in Bewegung setzte.
    »Ja«, erwiderte Joan leise. »Ich wusste nur nicht, was ich dazu sagen soll.«
    Schweigend verharrten sie eine Weile am Rand des Lichtkreises, der sich aus der Nacht schälte.
    »Etwas Heißes zu trinken?«, schlug Anna schließlich vor.
    »Etwas Heißes zu trinken«, stimmte Joan zu.
    Obwohl Anna und Harry zusammengezählt auf einunddreißig Jahre als Gesetzeshüter in amerikanischen Nationalparks zurückblicken konnten, stellte die Leiche der ermordeten Frau sie vor ein Problem, mit dem sie sich beide noch nie hatten befassen müssen. Da der Glacier von Grizzlybären bevölkert wurde, war eine Leiche nicht nur ein Beweisstück, sondern Fleisch. Aas. Wenn man einen toten Hirschen oder Elch entdeckte, sperrte die Parkverwaltung für gewöhnlich die Pfade in der näheren Umgebung, da ein Kadaver Bären anlockte. Was sie heute so mühsam aus der Schlucht geschleppt hatten, mochte morgen im Autopsiesaal ein toter Mensch sein. Heute Nacht war es ein Kadaver, der gerade anfing, zu verwesen und verführerisch zu duften.
    Weil es sich um eine Angelegenheit handelte, die den Ursus horribilis betraf, beherrschte sich Joan und übernahm das Kommando. Die Leiche wurde in Müllsäcke aus Plastik verpackt – nicht, weil diese verhindert hätten, dass der Geruch den Bären in der näheren Umgebung in die hochsensiblen Nasen stieg, sondern um die empfindsamen Seelen der Menschen zu schonen. Dann hängte man sie wie die Lebensmittel dreißig Meter vom Lagerplatz entfernt in einen Baum.
    Dieser Vorgang schien noch mehr auf die allgemeine Stimmung zu drücken. Obwohl einige einen schlechten Witz darüber rissen und niemand den grausigen Baumschmuck unverhohlen anstarrte, war Anna sicher, dass sich alle des Vorhandenseins der Leiche bewusst waren. Da hing sie nun, hoch im Geäst, wo das Licht sie gerade nicht mehr erreichen konnte, wie ein Windigo, ein Geist, der in den Wäldern des Nordens umging.
    Schweigend verspeisten sie ihr Abendessen und krochen dann in die Zelte. Die Mitglieder des Bärenteams waren zu sechst. Hinzu kamen Harry, Anna und Joan. Die Neuankömmlinge wurden zwar aufgefordert, sich als Dritte in eines der Zelte zu zwängen, doch Anna beschloss, draußen zu schlafen.
    Es war besser, sich dem Teufel zu stellen, als sich von ihm umkreisen zu lassen, ohne ihn zu sehen.

6
    Trotz der Tatsache, dass im Nationalpark ein Bär, der Anna auf dem Kieker hatte, und ein Wahnsinniger, der Frauen das Gesicht aufschlitzte, ihr Unwesen trieben, schlief sie ausgesprochen gut. Um fünf wurde sie davon geweckt, dass Harry Ruick mit Kocher und Kaffeekessel herumklapperte.
    Da sie nur auf die widerwärtig schmutzigen Sachen vom Vortag zurückgreifen konnte, hatte Anna im T-Shirt geschlafen und brauchte eine beklommene Minute, um sich im engen Schlafsack in Unterhose und Shorts zu quälen. Ruick, erfahren in den Benimmregeln der Wildnis, tat, als bemerke er sie nicht, bis sie vorzeigbar war.
    Joan hatte den Lagerplatz mit Bedacht ausgesucht. Zwei im rechten Winkel zueinander umgestürzte Baumstämme bildeten eine natürliche Essecke. Nachdem Anna den geliehenen Schlafsack in seinem Beutel verstaut hatte, machte sie sich Kaffee mit einer Filtertüte und setzte sich zu Ruick auf einen Baumstamm.
    »Buck hat den Vater des jungen Van Slyke gestern Nachmittag in Fifty Mountain angetroffen. Jetzt weiß die Familie, dass er vermisst wird«, sagte Ruick, anstatt Anna einen guten Morgen zu wünschen.
    Anna nickte. Buck war vermutlich der in der Nähe des Waterton Lake stationierte Ranger.
    »Der Helikopter kann landen, sobald es hell wird. Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es knappe anderthalb Kilometer von hier auf dem verbrannten Gelände eine geeignete ebene Stelle. Wir müssen hingehen, sie uns ansehen und sie markieren.«
    Eigentlich sprach Harry nicht mit Anna, sondern schmiedete Pläne. Sie war mit der Rolle der passiven Zuhörerin zufrieden. Als Harry Ruick gestern zu Pferde eingetroffen war, war sie ihm zum ersten Mal begegnet. Er machte auf sie den Eindruck eines Staatsdieners der modernen Art, die zwar ihren Nationalpark aufrichtig liebten, aber gleichzeitig auch politisch dachten und schon auf die nächste Sprosse der

Weitere Kostenlose Bücher