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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Bleistift?« Das hatte Anna zu bieten, und zwar in Form eines kleinen gelben Notizbuches. Auf der Innenseite des Einbandes standen die zehn Grundregeln der Brandbekämpfung. Während Ruick in seinem Rucksack kramte, warteten Anna und Gary und wünschten, sie hätten etwas Sinnvolles tun können. Als Harry das Gesuchte – eine Fünfunddreißig-Milimeter-Kamera – gefunden hatte, schoss er ein halbes Dutzend Fotos. Das Blitzlicht brannte sich in Annas Gehirn ein wie auf den Film. Nachdem Ruick die Szene festgehalten hatte, wandte er sich der Toten zu.
    Gary hielt die Taschenlampen hoch, so gut es möglich war, ohne das entstellte Gesicht der Leiche ansehen zu müssen. Anna machte Notizen. Ruick öffnete die Militärjacke. Die Tote hatte eine Figur wie ein Apfel am Stiel. Der Großteil ihres Körpergewichts verteilte sich zwischen Schambein und Schlüsselbein: große Brüste, umfangreiche Taille und ausladende Hüften, die unvermittelt in schlanke, wohlgeformte Beine übergingen. Es gab nicht viel zu schreiben, denn bis auf das zerstörte Gesicht schien sie unversehrt. Ob innere Verletzungen vorlagen, würde die Autopsie ergeben. Der Schlag ins Gesicht war möglicherweise heftig genug gewesen, um ihr das Genick zu brechen, doch es war erstaunlich wenig Blut zu sehen. Es fehlte die Blutlache, die zu erwarten gewesen wäre, wenn ihr jemand die Wunde zugefügt hätte, während das Herz noch schlug. Also war die Frau nach ihrem Tod verstümmelt worden.
    Harry untersuchte die Leiche nur oberflächlich. Keine Abwehrverletzungen an Händen oder Armen. Nichts eindeutig Feststellbares unter den Fingernägeln. Wegen der schlechten Lichtverhältnisse war es unmöglich, sich ein klares Bild zu machen. Die Frau hatte keinen Ausweis bei sich. Eine Durchsuchung der Taschen der Militärjacke förderte unbenutzte Filmrollen, eine zehn mal fünfzehn Zentimeter große abgegriffene Karteikarte, auf die jemand Maße notiert hatte, Lippenpomade, drei Pennys und eine topografische Karte des Parks zutage. Die Taschen der Shorts des Opfers waren leer.
    Schließlich hatte Ruick seine Überprüfung beendet. Da er nichts bei sich hatte, um die Leiche zu bedecken, rollte er sie wieder auf die Seite, sodass sich das entstellte Gesicht in der Dunkelheit verlor. Nachdem er und Anna ihre Taschenlampen wieder an sich genommen hatten, sahen sie sich rasch auf der kleinen Lichtung um, allerdings nur, indem sie die Blicke und den Lichtstrahl darüber wandern ließen, um an dem bereits stark veränderten Tatort nicht noch mehr Spuren zu verwischen.
    »Kein Rucksack«, stellte Anna fest.
    »Und auch keine Wasserflasche weit und breit«, ergänzte Gary.
    »Die Filme weisen darauf hin, dass sie eine Kamera bei sich hatte. Vielleicht wurde der Rucksack ja gestohlen. Oder er wurde zurückgelassen, falls sie anderswo verfolgt oder getötet worden ist«, fügte Ruick hinzu.
    Er griff zum Funkgerät und veranlasste die Bergung der Leiche. Wegen der Wetterbesserung würde ein Hubschrauber sie bei Morgengrauen abholen und fortbringen.
    Während Ruick seinen Funkspruch absetzte, klinkte Anna sich aus. Die Nacht, der überlange Fußmarsch, das Klettern, das Grübeln, zu wenig Schlaf, zu wenig Essen – ihr Gehirn verweigerte schlichtweg den Dienst. Obwohl sie weiter den Lichtkegel ihrer Taschenlampe über die Lichtung gleiten ließ, wusste sie, dass sie optisch nichts mehr wahrnahm. Gary und der Polizeichef waren nicht ganz so erschöpft wie sie. Doch schließlich waren sie nicht von einem psychotischen Bären aus dem Schlaf gerissen worden. Dennoch bezweifelte Anna, dass sie drei vor morgen früh noch viel bewerkstelligen würden.
    Endlich steckte Ruick das Funkgerät weg. Eine lange Zeit sagte keiner ein Wort. Anna war klar, dass sie sich in einem gefährlichen Zustand befand. Sie verabschiedete sich innerlich aus der Verantwortung und übertrug nicht nur das Problem mit der Leiche, sondern auch die Zuständigkeit für ihr eigenes Wohlbefinden auf den starken, zuverlässigen Harry Ruick. Schluss damit, befahl sie sich und rieb sich mit den Fingerknöcheln die Stirn, um die grauen Zellen aufzuwecken. In der Wildnis kam es häufig vor, dass jemand das Handtuch warf. Allerdings war es feige und außerdem leichtsinnig, denn niemand konnte unter diesen Bedingungen für die Sicherheit eines anderen Menschen bürgen.
    »Müssen wir sie raustragen?«, fragte sie, nachdem ihr Verstand wieder einigermaßen auf Touren gekommen war.
    »Ich sehe keine andere Möglichkeit«,

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