Blutköder
angesprochen. Allerdings verriet das nicht viel. Auf Zeltplätzen ging es nicht sehr förmlich zu.
»Haben sie zusammen gegessen oder vielleicht gemeinsame Wanderungen unternommen?«, erkundigte sich Anna.
McCaskil bedachte sie mit einem misstrauischen Blick. »Möglicherweise haben wir zur gleichen Zeit gegessen. Das ist nur im Essbereich möglich.« Anscheinend gefiel ihm die Befragung nicht. Obwohl es durchaus sein konnte, dass er sich nur nicht einmischen wollte und sich bedrängt fühlte, hatte er etwas an sich, das Annas Argwohn weckte. Sie beobachtete ihn eine Weile und versuchte, dahinterzukommen, woran es liegen mochte.
Er war recht attraktiv. Das dicke rotbraune Haar war natürlich gewellt. Ein schmales Gesicht mit einer markanten Nase und einem wohlgeformten Mund ließ ihn entschlossen wirken. Der Eindruck wurde durch die Aknenarben auf Wangen und Kinn zwar nicht zunichtegemacht, allerdings beeinträchtigt. Außerdem hatte er eine gute Figur: hochgewachsen, schlank und im Fitness-Studio gestählt. Muskeln, die sich nur dazu eigneten, Kleidung vorzuführen.
Als Anna länger darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass es das war, was sie an ihm störte. Dieser Mann fühlte sich hier fehl am Platz und hatte weder Freude an der Natur noch am Zelten. Seine wiederholten Beteuerungen, er habe allein sein wollen, schienen ihr unter den gegebenen Umständen nicht aufrichtig zu sein. Sie schätzte ihn eher als einen Menschen ein, der an schlecht besuchten Abenden in den Nachtklub ging, falls es ihn nach Einsamkeit gelüstete. Warum also hatte er sich ohne Begleitung mit einem Rucksack auf den Weg in den Glacier National Park gemacht?
Sie beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen. »Was hat sie dazu gebracht, allein mit dem Rucksack durch den Glacier National Park zu wandern?«
Die meisten Besucher empfanden das nicht als Fangfrage, sondern brannten regelrecht darauf, sie in aller Ausführlichkeit zu beantworten. McCaskil dagegen verhielt sich, als habe sie sich nach der Lösung einer schwierigen Rechenaufgabe erkundigt.
»Warum beschließt jemand, irgendetwas zu tun?«, gab er endlich zurück.
Anna wandte sich wieder den Punkten zu, die sie eigentlich hergeführt hatten. Doch wie zu erwarten war, hatte Bill nicht zur Kenntnis genommen, wann Carolyn Van Slyke sich irgendwo aufgehalten hatte. Die einzige Information, mit der er herausrückte, lautete, dass die Ehe der Van Slykes offenbar nicht im Himmel geschlossen worden sei.
»Sie würden nicht glauben, wie sie mit dem alten Jungen geredet hat«, war seine Art, es auszudrücken.
»Haben sie gestritten?«, hakte Anna nach.
»Nein, das nicht. Ich glaube, den Kämpfergeist hat der Mann nicht mehr, wenn er überhaupt jemals vorhanden gewesen ist.«
»Was dann?«
»Sie war eine Stichlerin. Die ganze Zeit hat sie spitze Bemerkungen von sich gegeben. Seitenhiebe gegen seinen Bauch oder seine Glatze. Nichts konnte er ihr recht machen. Ein armer Teufel. Wenn eine Frau so mit mir sprechen würde, würde sie sich eine einfangen. Aber er hat es hingenommen. ›Ja, Liebling, nein Liebling.‹« Beim Lachen zeigte Bill große weiße Zähne. Die beiden vordersten Schneidezähne waren leicht nach innen gedreht, was sein Gebiss raubtierartig wirken ließ. Sein Gelächter war abfällig und richtete sich, wie Anna annahm, nicht gegen Mrs Van Slyke, sondern gegen den bedauernswerten Tropf, der sie geheiratet hatte.
Als Anna sich von Bill McCaskil verabschiedete und sich, an den anderen Zelten vorbei, den Fußweg hinuntertastete, musste sie sich beherrschen, um nicht loszurennen. Der Mann verbreitete eine Verschlagenheit und düstere Anspannung, die Unbehagen bei ihr auslösten. Außerdem hatte er etwas Gehässiges an sich, wenn man seine Reaktion auf Lesters Demütigung als Anzeichen dafür werten konnte.
Sie machte noch einen Abstecher zu dem Zeltplatz, wo das Ehepaar aus dem Mittleren Westen untergekommen war. Die Frau, offenbar eine gute Hausfrau, hängte gerade Socken an einer Zeltschnur auf.
»Noch eine Frage«, begann Anna und fühlte sich sofort so sehr wie Columbo, dass es sie verlegen machte.
»Ja?«, erwiderte die Frau höflich.
»Erinnern Sie sich, warum Sie dachten, dass die blonde Frau und der Mann, der dort oben zeltet, miteinander verheiratet sind?«
Eine Socke in den Händen, hielt die Frau inne. »Wahrscheinlich deshalb, weil sie immer zusammen waren. Sie hielten nicht Händchen oder schmusten, aber man sah sie ständig zu zweit.
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