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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Überall. An den kleinen Mann, der anscheinend ihr Ehemann ist, erinnere ich mich auch. Doch der war nur selten bei ihr.«
    »Danke.« Anna machte sich wieder auf den Weg. Also war McCaskils Beziehung zu Carolyn Van Slyke enger, als er zugegeben hatte. Warum hatte er ihr das verschwiegen? Schließlich war es nicht gesetzlich verboten, sich in einem Nationalpark miteinander anzufreunden. Wenn er wusste, dass sie ermordet worden war, ergab sein Verhalten allerdings Sinn. Niemand wollte sich von den langsam mahlenden Mühlen des Polizeiapparats den Urlaub verderben lassen. Da hier in der Wildnis weder Nachbarn noch Kollegen, politische Gegner oder Verwandte zur Verfügung standen, mit denen man sich hätte befassen können, mangelte es eindeutig an Verdächtigen. Und weil McCaskil vor Ort und außerdem ein zwielichtiger Mensch war, hielt Anna es für angebracht, gründlicher über ihn nachzudenken. Kannte er Carolyn von früher und war ihr auf ihre Aufforderung hin hierher gefolgt? Oder unternahm er, der sich ohne die Errungenschaften der Zivilisation so offensichtlich unwohl fühlte, einfach nur einen Jagdausflug? Hatte Carolyn das Pech gehabt, seine Beute zu werden?
    Es fiel Anna leichter, sich Bill McCaskil vorzustellen, wie er sich blutbespritzt über sein Opfer beugte, als den unscheinbaren Lester Van Slyke. McCaskil hatte Anna erzählt, es habe zwischen Les und seiner Frau erhebliche Spannungen gegeben. War das nur ein Trick, um den Verdacht auf Lester zu lenken, indem er ihm ein Mordmotiv unterschob?
    Unwillkürlich schüttelte Anna den Kopf. Sie hatte nicht diesen Eindruck gehabt. McCaskil hatte Lester als »alten Jungen« und »armen Teufel« bezeichnet und hinzugefügt, er habe allen Kämpfergeist verloren. So beschrieb man keinen Gewalttäter. Außer, Bill McCaskil war so diabolisch schlau und unbeschreiblich hinterhältig, dass er den Mann absichtlich als das Sinnbild eines Kriechers schilderte. Und zwar in der Hoffnung, Anna würde daraus den Schluss ziehen, der Kriecher habe endlich zurückgeschlagen.
    »Anna? Bist du noch bei uns?«
    Als Anna aus ihrer selbst erzeugten Trance erwachte, bemerkte sie, dass Joan nur einen halben Meter entfernt stand und sie musterte. In ihrer Geistesabwesenheit war ihr gar nicht aufgefallen, dass sie, etwa sechs Meter vom Essbereich entfernt, mitten auf dem Weg angehalten hatte.
    »Wie viele Finger halte ich hoch?«, fragte Joan.
    »Tut mir leid«, entschuldigte sich Anna und folgte Joan den Pfad hinunter.
    »Ich habe schon von Leuten gehört, die total wegtreten können«, meinte Joan. »Ich habe es nur noch nie selbst miterlebt.«
    »Meine Konzentrationsfähigkeit macht sogar mir selbst Angst«, antwortete Anna.
    Joan lachte auf. »Nun, dann konzentrier dich jetzt aufs Gehen. Wir müssen den Rückweg vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Vergiss nicht, dass Mr Bär unseren Lagerplatz dem Erdboden gleichgemacht hat.«
    »Dem Erdboden gleichgemacht« war noch ein beschönigender Ausdruck für die Verwüstung. Bei ihrer Ankunft wich die Dämmerung bereits der Nacht. Die drei blieben am Rand der kleinen Lichtung stehen, weil niemand große Lust hatte, sich an die Arbeit zu machen. Der Himmel über ihren Köpfen hatte die der Dämmerung in den Bergen eigene meergrüne Farbe. Die Schatten fielen nicht, sondern ballten sich zwischen den Bäumen zusammen und wurden mit zunehmender Dunkelheit schwärzer.
    Ein Angstgefühl, so kalt wie Fieberschweiß, sammelte sich hinter Annas Brustbein. Die Suchaktion, der Leichenfund und die vielen Menschen und Helikopterflüge der letzten Tage hatten sie von ihrer grausigen Furcht abgelenkt, die sie in der Nacht des Grizzlyangriffs überwältigt hatte. Als sie die Geschichte ein ums andere Mal erzählte, war sie so unwirklich geworden wie eine Anekdote aus einem Krieg, in dem ein anderer gekämpft hatte. Nun wurde sie wieder Realität.
    Die von ihr und Joan zu einem Haufen gestapelten Zelte wiesen große Risse auf. Stoffstücke und zerfetzte Kleidung lagen überall im Gras. Es war gefährlich leicht, sich auszumalen, dass der Bär ganz in der Nähe lauerte und auf die Dunkelheit wartete.
    »Inzwischen ist er längst über alle Berge«, sagte Joan, als tobe in ihr die gleiche Furcht. »Bären haben ein großes Revier, und hier ist er nicht mit Futter belohnt worden.«
    »Vielleicht war er gar nicht auf Futter aus«, wandte Anna ein.
    »Was?«
    Anna wiederholte ihre Bemerkung nicht, da sie ihr selbst nicht sehr logisch erschien. Offenbar war es

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