Blutköder
mit einem winzigen Tambourstab.
Laut der Uhr auf seinem Schreibtisch war es Viertel vor fünf. Der Tag war unbemerkt verstrichen, ohne dass Anna, die sich mit anderen Menschen in geschlossenen Räumen aufgehalten hatte, es wahrgenommen hätte. Die kräftigen, farblosen Strahlen der Nachmittagssonne malten die Schatten der umstehenden Fichten auf den Parkplatz. Anna musste an eine Hängematte und ein gutes Buch denken. Unwillkürlich gähnte sie so breit, dass ihr Kiefer knackte.
Harry sah sie an und lachte. »Morgen ist auch noch ein Tag. Wahrscheinlich haben wir uns alle einen frühen Feierabend verdient.«
10
Das Geräusch von Krallen durchbrach die Nachtstille. Im ersten Moment wähnte Anna sich in ihrem Zelt im Hochland und kämpfte gegen Beklemmungen und Dunkelheit an. Nur langsam wurde ihr klar, dass sie mit der Bettdecke in Joans Gästezimmer rang. Das Fenster links vom Bett stand offen. Nur ein dünnes Fliegengitter trennte sie von der Außenwelt.
Die Panik öffnete Anna die Augen, und sie sah im Dämmerlicht der wenigen Straßenlaternen, die in der Wohnsiedlung die Nacht verdarben, eine riesenhafte struppige Gestalt. Noch während sie sie beobachtete, versperrte sie ihr die Sicht auf das Licht, schluckte es wie ein schwarzes Loch und bohrte dann mit funkelnden spitzen Zähnen Löcher hinein.
Anna riss den Mund auf, konnte aber nicht schreien. Sie brachte keinen Ton heraus. Arme und Beine lagen schwer wie Holzklötze auf der Matratze. Die Zähne durchdrangen das Moskitonetz. Ein leises Ratschen ertönte. Dann streckte sich eine Tatze mit Krallen, so lang, dass sie das Fensterbrett berührten, klappernd durch das zarte Drahtgeflecht. Anna war noch immer wie gelähmt, als würden ihre Gliedmaßen von einem Gift niedergedrückt.
Mit einer gewaltigen Anstrengung versuchte sie, sich zu bewegen. Der Ruck weckte sie und befreite sie von ihrem Albtraum. Eine halbe Minute lang verharrte sie im Bett und versicherte sich, dass sie nun wirklich wach war und es nicht nur träumte und dass ihr der schwarze Treibsand ihres Unterbewusstseins nichts mehr anhaben konnte.
Im nächsten Moment war wieder das Scharren der Krallen zu hören, und der Albtraum begann erneut. Diesmal löste sich Annas Erstarrung. Schnell wie eine Katze sprang sie aus dem Bett und lehnte sich splitternackt an die Wand neben dem Fenster. Ihr Herz klopfte, und sie kam sich ziemlich albern vor. Allerdings wusste sie genau, was sie gehört hatte: ein Kratzen.
Bei Joans Einzug waren die Vorhänge bestimmt schon da gewesen. Das musste einfach so sein, denn Annas Ansicht nach hätte keine Angehörige des weiblichen Geschlechts freiwillig die Stofflappen ausgesucht, die zu beiden Seiten des Fensters hingen.
Vorsichtig schob Anna die Finger zwischen den riesigen Vorhang mit dem geometrischen Muster und die Wand und zog ihn so weit beiseite, dass sie das Fliegengitter einigermaßen im Blick hatte. Sie schätzte die Zeit anhand ihrer Herzschläge ab: eine Minute, zwei, vielleicht drei. Als der Albtraum ihre Augen freigab, bemerkte sie den zartsilbernen Schimmer des Lichts in der Ferne, das sich in dem feinen Drahtgeflecht spiegelte, und den dunkleren Schatten des überhängenden Giebels. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, sah sie die Garage eines Hauses und die Vordertür eines anderen. Alles war still. Keine Ungeheuer weit und breit.
Ihre Aufregung legte sich. Die Kälte durchdrang ihre nackte Haut. Am stärksten empfand Anna sie dort, wo ihr Po und ihre Schulterblätter die Wand berührten. Dennoch kehrte sie nicht zurück ins Bett. Das Warten war eine Kunst. Es hatte ihr noch nie geschadet, noch eine Minute länger auszuharren und zu beobachten. Oder fünf.
Kratz. Kratz. Eine Kralle, eine einzelne Kralle, der magere schwarze Zeigefinger einer Hexe, kroch das Fensterbrett hinauf und scharrte am Fliegengitter.
Lautlos wich Anna vom Vorhang zurück. Mit drei Schritten durchquerte sie das Zimmer und griff nach Shorts und Hemd. Im Flur zog sie die Sachen an. Ihre Stiefel standen neben ihrem Tagesrucksack an der Eingangstür. Sie schlüpfte hinein und schnürte sie zu.
Joan lebte wie eine Pazifistin. Die einzige Waffe, die im dunklen Wohnzimmer zu finden war, war ein dreibeiniger Schemel neben dem Sessel. Anna kippte die Fernbedienung und eine Ausgabe von Reader’s Digest hinunter und nahm den Schemel in die rechte Hand. Schweres Hartholz, gut verarbeitet; er würde genügen.
Rasch schlich sie sich durch die Küchentür an der
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