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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Rückseite des Hauses hinaus und hastete leise um die Garage herum. Ihre Stiefel verursachten auf dem üppig wachsenden Sommergras fast kein Geräusch. Sie reckte den Hals wie eine Ente, die nach einem Marienkäfer schnappt, spähte um die Ecke und duckte sich wieder.
    Unter ihrem Schlafzimmerfenster kauerte eine Gestalt. Angesichts der tatsächlichen und eingebildeten Ungeheuer, die ihr in ihren Nächten zusetzten, vergaß sie kurz, welche Spezies die Ehre für sich beanspruchte, die gefährlichste auf Erden zu sein, und war beruhigt, weil es sich offenbar um einen Menschen handelte.
    Die Person, die an ihrem Fliegengitter kratzte, hatte ihr den Rücken zugekehrt. Den Stuhl bereit für Angriff oder Verteidigung über die Schulter erhoben, trat Anna hinter der Ecke der Garage hervor und schlich langsam über die betonierte Auffahrt.
    Kratz. Der Hexenfinger war ein Stöckchen, mit dem der kauernde Mensch über das Fliegengitter fuhr. Er trug zwar eine dunkle Jacke, doch in seinem hellen Haar fing sich das Licht. Anna pirschte sich von hinten an ihn heran. Da ihre Angst sich gelegt hatte, machte ihr das Spiel inzwischen Spaß.
    Sie beugte sich vor und hielt dem Eindringling die Lippen ans Ohr. »Rory«, raunte sie. »Was tust du da?« Das Ergebnis war prächtig anzusehen. Rory Van Slyke schlug beide Hände vor den Mund. Er ließ das Stöckchen fallen und sackte gegen die Hauswand. Seine Augen über den Händen waren schreckgeweitet.
    Nur das Geräusch fehlte. Rory hatte keinen Mucks von sich gegeben. Keinen Aufschrei oder ein Stöhnen. Irgendwann im Leben hatte er gelernt, sich still zu verhalten. Anna fragte sich nach dem Grund.
    Sie ließ den drohend erhobenen Schemel sinken und setzte sich darauf. »Was tust du da?«, wiederholte sie, diesmal in normalem Tonfall.
    »Pssst«, wisperte Rory. »Ich wollte, dass du mich bemerkst.«
    »Warum hast du dann nicht einfach an die Tür geklopft?«, fragte Anna leise. Alte Bibliotheksregel: Es ist schwierig, in normaler Lautstärke zu sprechen, wenn das Gegenüber flüstert.
    »Ich wollte Joan nicht wecken«, erwiderte Rory und setzte sich auf. »Können wir irgendwo hingehen? Spazieren oder so?«
    An Schlaf war in der nächsten Stunde ohnehin nicht zu denken, denn so lange dauerte es, bis das Adrenalin abgebaut war. »Klar«, antwortete Anna. »Ich hole mir nur eine Jacke.«
    »Nein. Zieh meine an«, sagte Rory und schlüpfte aus seiner dunklen Fleecejacke. »Ich will Joan nicht wecken«, wiederholte er.
    Anna nahm die Jacke. Sie war weich, zu groß und angenehm vorgewärmt. »Vorwärts, Macduff«, meinte sie in Anspielung auf Macbeth, worauf Rory sie verständnislos ansah. »Wohin gehen wir?«
    »Ach, irgendwo hin.« Unter der Fleecejacke trug er Jeans und ein Sweatshirt mit der Aufschrift »Mariners«. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und marschierte über den Rasen in Richtung Straße. Anna folgte ihm. Kurz fragte sie sich, ob es nicht sträflich leichtsinnig von ihr war, sich von einem jungen Mann, der auf einer sehr kurzen Liste von Mordverdächtigen stand, allein in die Nacht hinauslocken zu lassen. Doch aus Gründen, die sie selbst nicht ganz begriff, schlug ihre innere Stimme nicht Alarm. Vielleicht hatte sie sich ja von Joans Gutmenschentum anstecken lassen. Aber möglicherweise wurde sie auch nur alt, schlampig und verlor ihren Biss.
    Ganz gleich, woran es auch liegen mochte, Anna empfand keine Angst um ihr körperliches Wohlergehen, sondern nur eine brennende Neugier zu erfahren, was der Junge auf dem Herzen hatte. Bis sie nach einer Strecke, die in etwa der Länge eines Häuserblocks entsprach, eine Weggabelung erreichten, sagte Rory kein Wort. Die Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren dunkel; die Bewohner schliefen. Anna war gern nachts unterwegs. Es war schon eine Weile her, dass sie sich wie ein Geist unter den Lebenden bewegt und ihre eigenen Gedanken gedacht hatte, während die anderen die ihren träumten. In den Wäldern von Mississippi waren die Nächte zu dunkel zum Umherwandern.
    An der Weggabelung blieb Rory kurz stehen, als überfordere ihn die Entscheidung, welche Richtung er einschlagen sollte. Im nächsten Moment ging er weiter, und zwar geradeaus in Richtung Zentrale und Hauptstraße. Hohe Bäume säumten die Straße wie ein undurchdringlicher schwarzer Vorhang. Der Himmel über ihren Köpfen war klar. Sterne und ein zu einem Viertel voller Mond verbreiteten genug Licht, um etwas zu sehen. Anna fand es angenehm, keine Taschenlampe zu

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