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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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brauchen. Bei wirklicher Finsternis waren Taschenlampen unverzichtbar. Ansonsten schränkten sie das Gesichtsfeld so stark ein, dass sie eher eine Ablenkung als eine Orientierungshilfe waren.
    »Also, was passiert jetzt?«, fragte Rory nach einer Weile.
    »Was meinst du damit?« Da in den letzten Tagen viel Blut unter der Brücke hindurchgeflossen war, konnte er auf eine ganze Reihe von Dingen anspielen. Außerdem wollte Anna ihm aus einer angeborenen Vorsicht heraus keine unnötigen Informationen anvertrauen.
    »Du weißt schon … der … Todesfall«, erwiderte Rory.
    Anna betrachtete ihn im fahlen Mondlicht. Falls er um seine Stiefmutter geweint hatte, hatte er das hinter verschlossenen Türen getan. Seine Augen waren trocken, doch Anna fiel auf, dass er weder Carolyns Namen ausgesprochen noch sie als »meine Stiefmutter« bezeichnet hatte. Ganz gleich, was er auch fühlte, war es nur natürlich, dass er Abstand zu dem Ereignis gewinnen wollte.
    »Es wird Ermittlungen geben«, antwortete sie zögernd. »Polizeichef Ruick und ich werden sie leiten. Er wird versuchen, den Täter zu finden und ihn vor Gericht zu bringen.« Sie bemerkte, dass sie abweisend klang und die Dinge zu sehr vereinfachte. Allerdings war sie nicht sicher, wie sie sich ausdrücken sollte und was Rory hören wollte.
    »Habt ihr schon Verdächtige?«, erkundigte sich Rory. Inzwischen waren sie an der Straße, die am Parkplatz der Zentrale vorbei zum Betriebshof führte. Rory bog ab. Anna zögerte. Dieser Weg würde sie zu den Geräteschuppen, Garagen und Lagerhäuser und danach zum Gebäude der Parkverwaltung bringen. Sie entfernten sich immer weiter von der Wohnsiedlung, wo man einen Schrei hören und, weil sie hier in einem Nationalpark waren, auch darauf reagieren würde.
    Schließlich folgte sie ihm doch. Zum Umkehren war noch Zeit genug. Es interessierte sie, wo er hinwollte, nicht nur geografisch, sondern auch im übertragenen Sinne. »Niemand Speziellen, wenn du das meinst«, wich sie aus. »Es ist nicht so, dass wir jemanden in flagranti erwischt hätten.«
    »Im Fernsehen verdächtigen sie immer den Ehemann«, erwiderte Rory. »Habt ihr Les im Verdacht?«
    Offenbar war Rory noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass auch er verdächtigt werden könnte. Vielleicht hielt er es ja für ein wasserdichtes Alibi, dass er anderthalb Tage nicht erreichbar gewesen und in Hausschuhen durch den Wald geirrt war. Oder er war verschlagener, als Anna ihm zutraute. Ob er den Verdacht auf Les lenken wollte und deshalb diesen kleinen nächtlichen Ausflug veranstaltete?
    »Er ist ein Verdächtiger«, antwortete Anna, weil Rory die Wahrheit bereits kannte. »Warum? Glaubst du, dass dein Dad deine Stiefmutter umgebracht hat? Dass Les Carolyns Mörder ist?« Sie benutzte absichtlich Bezeichnungen und Namen, damit es nah und persönlich wurde, denn sie war neugierig auf Rorys Reaktion.
    Ein Muskelzucken? Zu dunkel, um das mit Sicherheit festzustellen. »Vielleicht war ich es ja. Je daran gedacht?«, gab er zurück.
    »Genau das war vor einer guten Minute auch meine Idee. Warst du es?«
    »Dad war es auf keinen Fall.«
    Inzwischen hatten sie den Betriebshof erreicht. Rory blieb an der Zapfsäule stehen und drehte sich zu Anna um. »Ich finde, du solltest ihm nicht so zusetzen. Dad ist nicht gesund. Merkst du das denn nicht? Er ist alt und hat ein schwaches Herz. Sein Blutdruck ist zu hoch. Das alles ist zu viel für ihn. Lass ihn in Ruhe.«
    Darum ging es also. Anna blickte sich auf dem menschenleeren Betriebshof um. Sie sah Reihen schmuckloser Garagentüren rings um ein gepflastertes Rechteck und riesige, nun in der Nacht reglose Maschinen und wünschte, sie hätte vorhin darauf beharrt umzukehren. Rory stand nur wenige Meter entfernt und musterte sie so eindringlich, wie sie ihre Umgebung betrachtete. Sein sandfarbenes Haar schimmerte im Dämmerlicht. Die struppigen Ponyfransen, die dringend gestutzt werden mussten, sorgten dafür, dass seine Augen im Schatten lagen.
    »Es ist kalt«, meinte Anna. »Lass uns weitergehen.« Und reden. Reden war zwar emotional belastend und häufig gefährlich für die Seele, aber zumindest kein Sport, bei dem man sich körperliche Schäden zuzog. Deshalb wollte Anna Rory am Reden halten, bis sie wieder in einer dichter besiedelten Gegend waren.
    »Lieber nicht«, widersprach er. Anna marschierte dennoch los, als hätte sie ihn nicht gehört. In gemächlichem Tempo steuerte sie auf eine scharfe Kurve zu, hinter der sich das

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