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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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»Während du bei Morgengrauen im Wald ein Nickerchen gehalten hast und von Freunden und Familie vermisst wurdest, hat jemand oder etwas dein schmutziges Sweatshirt gestohlen und dir eine Flasche mit dringend notwendigem Wasser hinterlassen. Und das alles, ohne dich zu wecken oder sich zu vergewissern, ob du überhaupt noch lebst.«
    »Richtig«, entgegnete Rory. Sein Hals wurde wieder steif. »So schmutzig war mein Sweatshirt nun auch wieder nicht.«
    »Könnte das eine gute Fee oder ein Schutzengel gewesen sein?«, spöttelte Anna, nur um festzustellen, ob die Wut dem Jungen vielleicht etwas entlocken würde.
    Rory starrte auf die Tischplatte. Die Lippen hatte er fest zusammengepresst, sicher, um zu verhindern, dass ihm Wörter herausrutschten, die man sich gegenüber Erwachsenen in einer Machtposition besser verkniff. Nachdem diese Gefahr gebannt war, machte er den Mund auf. »Vielleicht war es ja wirklich so. Ein Schutzengel. Ich brauchte dringend Wasser und bin den ganzen Tag lang und auch am nächsten auf keines gestoßen. Möglicherweise wäre ich sonst gestorben.«
    Anna hatte die Erfahrung gemacht, dass es sinnlos war, gegen magisches Denken anzuargumentieren. Allerdings war es ihr in ihren Jahren als Parkpolizistin immer gelungen, den kleinen Mann, der die Hebel bediente, hinter dem Vorhang hervorzuziehen, wenn sich jemand auf Zauberei berief. Deshalb hatte sie den Verdacht, dass auch an Rorys Wunder ein Sterblicher auf tönernen Füßen beteiligt war. Rorys eigenen, Größe vierundvierzig, sogar?
    »Bestimmt hatte ich zwei Wasserflaschen dabei«, sagte Rory plötzlich und schien sehr zufrieden mit dem Einfall. »Und eine habe ich aus dem Zelt mitgenommen. Ich erinnere mich nur einfach nicht mehr daran.«
    Anna musterte ihn argwöhnisch. »Du hast doch gerade behauptet, ein Engel hätte sie dir gegeben.«
    »Na ja. Das war ziemlich dämlich. Sicher hatte ich zwei.« Rorys Tonfall wurde mürrisch und verstockt. »Ich habe sie mitgenommen, als ich das Lager verließ, und sie dann vergessen. Schließlich war da der Bär und so, und außerdem war mir nicht gut.«
    Anna beschloss, nicht weiter nachzubohren. Im Moment wenigstens.
    Stattdessen schaltete sie den Kassettenrekorder ab, holte eine Landkarte heraus und verbrachte die nächsten zwanzig Minuten damit, Rory durch Ansporn, Druck und Beharrlichkeit dazu zu bewegen, den während seiner sechsunddreißigstündigen Abwesenheit zurückgelegten Weg nachzuzeichnen. Allerdings führte jeder Anlauf zu demselben Ergebnis. Rory wusste, wo er losgegangen und wo er gelandet war. Die Stunden und Kilometer dazwischen waren ein zeitloses Kaleidoskop aus Wald, Gestrüpp und verbranntem Gebiet. Als klar wurde, dass er nicht deutlicher werden konnte oder wollte, gab Anna es auf. Wenn er es ihr nicht erzählen wollte, hatte sie keine Möglichkeit, ihn dazu zu zwingen. Und falls er es tatsächlich nicht wusste, würde er irgendwann einfach etwas erfinden, damit sie ihn in Ruhe ließ.
    Überzeugt, dass im Augenblick nicht mehr aus ihm herauszuholen war, erklärte sie die Befragung für beendet und ging mit Rory in Harrys Büro, wo der Polizeichef mit Lester Van Slyke saß. Nach einer kurzen Unterredung kamen Anna und Ruick zu dem Schluss, dass es Zeitverschwendung war, Vater und Sohn gemeinsam zu vernehmen. Es würden sich ausreichend Gelegenheiten ergeben, zu beobachten, wie die beiden miteinander umgingen, wenn ihre Gefühle hochkochten. Im Augenblick verschanzten sie sich hinter einer Fassade. Also wurden sie mit den angemessenen Dankesworten entlassen. Anna war wieder allein mit Harry.
    In der Zivilisation wirkte Harry wie geschrumpft. Draußen in der Wildnis und verantwortlich für eine Situation, in der es um Leben oder Tod ging, hatte er einen jüngeren und kräftigeren Eindruck gemacht als hinter seinem Schreibtisch und umgeben von seinen Trophäen und Diplomen.
    Anna erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Sie war auch nicht gerade eine Augenweide. Ihr kurzes Haar wies mehr graue Strähnen auf, als sie in Erinnerung hatte, und ihr Alter zeigte sich zunehmend an den Falten unter den Augen und der schwammig werdenden Kinnpartie.
    »Für Angehörige einer geliebten Verstorbenen verhalten sich die beiden Jungs eindeutig seltsam«, stellte Ruick fest. »Les ist noch immer fest entschlossen, seinen verdammten Campingausflug fortzusetzen, und sagte, Rory wolle unbedingt mit dem DNA -Projekt weitermachen.«
    »Rory hat mit ihm gesprochen?«
    »Er hat

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