Blutköder
ihn gestern Abend im Hotel angerufen.«
Da Harry nicht viel Zeit mit Rory verbracht hatte, ahnte er nicht, wie eigenartig das war. Vielleicht würde Mrs Van Slykes Tod ja dafür sorgen, dass Vater und Sohn enger zusammenrückten.
»Man darf sich ja von einer Kleinigkeit wie einem Mord nicht den Urlaub verderben lassen«, höhnte Ruick.
Allerdings brachte die Entscheidung der Van Slykes, im Glacier zu bleiben, Vorteile für die Ermittlungen mit sich. Obwohl Anna und Harry einen Verdacht hatten, gab es keine hinreichenden Gründe, um Les oder seinen Sohn hier festzuhalten. Das besondere Problem bei in Nationalparks verübten Straftaten bestand nämlich stets darin, dass Täter und Zeugen sich vor Abschluss der Untersuchungen in alle Winde verstreuten.
»Was sollen wir ihrer Ansicht nach mit der Leiche anfangen?«, erkundigte sich Anna. »Sie einfach im rechtsmedizinischen Institut von Flathead County liegen lassen, bis es Zeit ist, nach Hause zu fahren?«
»So ähnlich. Les hat schon alles geplant. Sobald die Autopsie erledigt ist, will er sie hier vor Ort einäschern lassen. Die Asche holt er dann nach seinem Campingausflug ab.«
»Keine Beerdigung, keine Trauerfeier, gar nichts?«
»Offenbar. Doch er trauert anscheinend wirklich um seine Frau. Er hat ein paarmal geweint, falls das etwas zu bedeuten hat. Aber es sah danach aus, als wäre er hauptsächlich wütend auf sie.«
»Das ist nur natürlich«, erwiderte Anna und erinnerte sich an den Vortrag ihrer Schwester, als sie nach dem Tod ihres Mannes Zach zornig auf ihn geworden war. Die Angst davor, verlassen zu werden, war ebenso weit verbreitet wie die, zu stürzen. Und Angst hatte nun einmal die Eigenschaft, sich nach innen zu richten. Bei Frauen äußerte sie sich für gewöhnlich in Form einer Depression, bei Männern in Aggressivität.
»Nein, nicht so«, tat Harry den Einwand ab. »Ich bin zwar kein Seelenklempner, aber es hat sich anders angefühlt. Es war etwas Böswilliges dabei. So als würde der alte Lester der Leiche seiner Frau am liebsten einen ordentlichen Tritt verpassen, wenn niemand hinschaut.«
»Rory hat angedeutet, in der Ehe seiner Eltern sei nicht alles eitel Sonnenschein gewesen, war jedoch nicht bereit, das weiter auszuführen«, merkte Anna an.
»Les hat sich nicht abfällig über seine bessere Hälfte geäußert und, wie ich schon sagte, sogar ein paar Tränchen verdrückt. Was mich stutzig gemacht hat, war seine Art, die Einäscherung der Leiche anzuordnen. Ohne mit der Wimper zu zucken.«
»Glauben Sie, er war es?«
»Natürlich hat er kein Alibi. Die Tat geschah in den frühen Morgenstunden, und wenn man nicht mit einem anderen Menschen das Bett teilt, hat man auch niemanden, der bezeugen kann, wo man sich aufgehalten hat. Dass er, was ihren Tod betrifft, ziemlich gemischte Gefühle hegt, steht fest. Aber nein, ich glaube nicht, dass er der Täter ist. In diesem Fall hätte er etwas mehr auf die Tränendrüse gedrückt. Außerdem würde er dann so schnell wie möglich von hier verschwinden wollen.«
»Außer er hat noch etwas zu erledigen«, meinte Anna nachdenklich. »Etwas, wobei Carolyn ihm im Weg stand.«
Sie grübelten eine Weile darüber nach, doch die zündende Idee blieb aus. Was konnten ein alter Mann und ein Junge im Glacier-Nationalpark wollen? Es gab hier, soweit bekannt war, weder Gold noch Silber, Erdgas oder verborgene Schätze der Azteken. Es war zwar schon vorgekommen, dass jemand Gletscherlilien ausgegraben und stibitzt hatte, doch die hatten keinen finanziellen Wert.
Als Anna an die Lilien dachte, fiel ihr Geoffrey Mickleson-Nicholson ein. Harry notierte sich den Namen.
»Ohne die nötigen Daten ist es unmöglich, ihn zu finden«, sagte er. »Sozialversicherungsnummer, Führerschein, Geburtsdatum. Aber ich werde nachsehen, ob sich jemand dieses Namens eine Genehmigung zum Zelten besorgt hat.«
»Ich weiß nicht, ob er überhaupt alt genug ist, um einen Führerschein zu haben«, entgegnete Anna. »Und wenn Sie schon einmal dabei sind, können Sie auch gleich einen Bill oder William McCaskil überprüfen. Er hat gleichzeitig mit den Van Slykes in Fifty Mountain gezeltet und gelogen, als ich ihn fragte, wie gut er Carolyn kannte.«
Ruick schrieb »McCaskil, William« auf seinen Notizblock. »Was sonst noch?«, erkundigte er sich.
Anna hatte nichts mehr zu bieten.
Ruick starrte aus dem Fenster und klopfte geistesabwesend mit seinem Bleistift auf die Tischplatte, immer abwechselnd Ende und Spitze wie
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