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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Funkeln, das bei Jugendlichen häufig vorkommt, wenn ein Erwachsener sich zu ihrer Überraschung nicht als unsäglich begriffsstutzig entpuppte.
    »Wer hätte einen Grund haben können, deine Stiefmutter umbringen zu wollen?« Anna sparte sich die Mühe, die Frage zu beschönigen.
    Falls ihn das erschüttert haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken. Wieder starrte Rory hinaus auf den Parkplatz, ohne etwas zu sehen, während er seinen Verstand nach Antworten durchsuchte. Eine leuchtete kurz in seinen Augen auf und verlosch wieder. Offenbar hatte er nicht beschlossen, sie zu verwerfen, sondern sie geheim zu halten. »Ein paar Leute gibt es da schon«, erwiderte Rory schließlich. »Aber von denen ist keiner hier. Warum sollte sie jemand hier ermorden? Es wäre doch viel einfacher gewesen, sie auf einem Fußgängerüberweg zu Hause in Seattle zu überfahren.«
    Rory hatte eine ziemlich pragmatische Einstellung zum Thema Mord.
    »Ein paar?«, bohrte Anna nach.
    »Carolyn war Scheidungsanwältin«, erklärte Rory.
    »Oh. Richtig. Denkst du an jemand Speziellen?«
    »Vielleicht ihre Ex-Schwägerin. Barbara Soundso. Sie hasste Mom.«
    »Mom« und »Carolyn« lieferten sich ein Wettrennen. Anscheinend bestanden in dieser Hinsicht einige ungelöste Konflikte. Anna wünschte sich sehnlichst, Molly wäre jetzt hier. Rorys Welt musste eindeutig von einem Psychiater erkundet werden.
    »Vermutlich hätte ihr jemand hierher folgen können.« Rory klang voller Hoffnung. Und warum auch nicht? Der Junge war nicht auf den Kopf gefallen und wusste sicher, dass die Polizei ihn und seinen Dad gründlich unter die Lupe nehmen würde. Das Fernsehen hatte ganze Arbeit geleistet, die Arglosigkeit zerstört und sie in den häufigsten Fällen durch Fehlinformationen ersetzt.
    »Könnte sein«, meinte Anna, obwohl sie es nicht wirklich glaubte. Zu kompliziert. Zu anstrengend. Rory hatte recht. Ein Fußgängerüberweg in der Stadt war die wahrscheinlichere Lösung.
    Anna änderte die Taktik. »Erzähl mir, wie sie war.«
    Rory warf ihr einen erschrockenen Blick zu, den sie nicht ganz verstand, und setzte dann brav zu einer Auflistung der Fakten an: Größe, Gewicht, Haarfarbe, Beruf, Studium. Nicht die Punkte, die ein Kind normalerweise erwähnte, um einen verstorbenen Elternteil zu beschreiben. Anna nahm nicht an, dass er die Frage missverstanden hatte. Er wich ihr aus.
    »Wie vertrug sie sich denn mit deinem Dad?«
    Rorys Miene versteinerte ein wenig. »Da musst du ihn schon selbst fragen.«
    Anna ließ das eine Weile auf sich beruhen. »Also. Wirst du mir jetzt verraten, woher du die Wasserflasche hattest?«, sagte sie dann.
    Rorys verdatterter Gesichtsausdruck überzeugte sie mehr als heftiger Protest davon, dass er sie nicht seiner sterbenden Stiefmutter aus der Hand gerissen hatte. Im nächsten Moment breitete sich Erkenntnis in seiner Miene aus, und die Erinnerung kehrte zurück.
    Der Übergang war einfach zu natürlich und schloss zu viele kleine Schritte des Erinnerns ein, um vorgetäuscht sein zu können.
    »Die, die ich dabei hatte, als ihr mich nach dem Überfall des Bären auf unser Lager gefunden habt?«
    »Genau die. Woher hattest du sie?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Rory.
    So unwahrscheinlich das auch klang, war Anna geneigt, ihm zu glauben. »Woher hattest du sie?«, wiederholte sie dennoch.
    »Das kann ich dir nicht sagen.« Allmählich wurde sein Tonfall verzweifelt.
    »Versuch es.«
    »Zuerst hatte ich sie nicht. Ich denke … nein, ich bin sicher, dass ich sie nicht hatte, weil ich Durst gekriegt habe … großen Durst, als es zu regnen anfing.«
    Anna überlegte. Das musste kurz nach Sonnenaufgang gewesen sein, als sie und Joan sich zusammengerissen und die Überreste ihres vom Bären verwüsteten Lagers eingesammelt hatten.
    »Du hattest also Durst«, hakte sie nach.
    »Mir war heiß. Ich war gerannt«, gab er zu. »Ich hatte mein Sweatshirt ausgezogen und mich kurz hingelegt. Der Regen hat mich aufgeweckt. Das Sweatshirt war weg, und die Wasserflasche war da. Nach einer Weile habe ich mir vermutlich eingebildet, dass ich sie aus dem Lager mitgebracht hatte. Aber das war nicht so. Nicht wirklich.«
    Anna konnte das nachvollziehen. Aufgabe des Gehirns war es, der Welt einen Sinn zu geben. Verweigerte sich diese Welt der Logik, war der Verstand mühelos dazu in der Lage, Erinnerungen umzuschichten, bis zumindest der Anschein von Ordnung wiederhergestellt war.
    »Habe ich das richtig verstanden?«, meinte Anna.

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