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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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Schluchzen senkten sich die sanften Geräusche des Parks auf sie herab wie ein Segen. Die Nadeln einer hohen Fichte rauschten und raunten über ihren Köpfen. Irgendwo in der Nähe erklang das entschlossene Schnattern eines Eichhörnchens, das seine Wintervorräte versteckte. Rory seufzte tief in diese friedliche Stimmung hinein und pustete namenlose Seelengifte aus.
    »Warum erzählst du es mir nicht?«, forderte Anna ihn freundlich auf.
    Rory warf ihr einen Blick zu, als passe diese Freundlichkeit überhaupt nicht zu ihr. Anna war gekränkt. Sie verhielt sich gegenüber Tieren stets freundlich. Manchmal auch gegenüber Menschen – bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie es verdient hatten.
    »Was gibt es da zu erzählen?« Er schaute an Anna vorbei und über das Geländer zu den flüsternden Fichten hinüber. Aus seinem Tonfall schloss Anna, dass er versuchte, den Unbeteiligten zu mimen. Allerdings gelang ihm nur ein Tonfall, der abgrundtiefe Erschöpfung verriet.
    Da Anna ihm diese Frage nicht beantworten konnte, saß sie wortlos da und genoss die Sonne auf Gesicht und Armen. Flüchtige Wärme mit einem Hauch von Gnadenlosigkeit. Die Sonne im Norden hatte etwas Reinigendes an sich. In Mississippi trafen einen die Strahlen im Sommer wie ein Schlag, sodass sich nur Dummköpfe und Nordstaatler außerhalb der schattigen Fleckchen unter den prächtigen alten Eichen und Fichten aufhielten. Anna hatte die skalpellartige Berührung der Sonne im Hochland vermisst.
    Rory seufzte wieder und begann dann, sich die Scham, die er insgeheim seit so vielen Jahren für seinen Vater empfand, von der Seele zu reden. »Ich weiß nicht, warum es angefangen hat. Mom – meine wirkliche Mutter – starb, als ich noch klein war. Eine Weile waren Dad und ich allein. Ich glaube, das war schon in Ordnung so. Ich habe eine Menge vergessen. Ich erinnere mich nur an viel Ruhe und viel Fernsehen. Sehr viel Fernsehen. Ich fand es ziemlich cool, dass ich lange aufbleiben und mit Dad fernsehen durfte, während meine Freunde um acht ins Bett mussten.«
    Dad. Er hatte das Wort zweimal benutzt. Nun, da Carolyn tot war, hatte Les seinen Titel wieder. Anna deutete das als gutes Omen für die Zukunft.
    »Carolyn erschien etwa zwei Jahre später auf der Bildfläche. Dad hat sie bei einer Feier bei Boeing kennengelernt. Vielleicht auch anderswo. Keine Ahnung. Mein Gott.« Rory verstummte kurz und atmete die Bilder aus, die seinen Bericht offenbar zum Entgleisen gebracht hatten.
    Anna saß schweigend da und hoffte, dass keiner der Jungen aus der Unterkunft kommen und die Stimmung des Augenblicks zerstören würde. Wie sie vermutete, würde Rory verstummen, wenn man ihn jetzt unterbrach.
    »Ich weiß noch genau, wie lustig sie war. Es war, als hätten wir bis dahin in Schwarz-Weiß gelebt, und plötzlich hatte unsere Welt wieder Farbe. Wahrscheinlich waren Dad und ich seit Moms Tod nicht oft vor die Tür gegangen. Früher habe ich nach der Schule etwas unternommen – was Kinder eben so tun, Baseball-Mannschaft und so. Aber nach Moms Tod hat das alles aufgehört. Dad musste oft lange arbeiten. Wahrscheinlich gab es niemanden, der mich irgendwo hinfahren und wieder abholen konnte.
    Kaum war Carolyn da, haben wir wieder Ausflüge gemacht. Eine ganze Menge: Spaßbäder, Jahrmärkte, Zirkus, Hockeyspiele. Immer lachte sie und nahm Dad auf den Arm. Sie hat alles für uns getan, geputzt und das Haus aufgeräumt. Ich weiß noch, dass ich eines Tages aus der Schule kam und das Haus plötzlich viel größer und heller war. Die Vorhänge standen offen. Dads Stapel aus Zeitungen und Zeitschriften waren verschwunden. Meine Kleider waren aufgehängt, und mein Bett war gemacht. Wie damals, als Mom noch lebte.
    Carolyn war immer bei uns zu Hause. Und Dad hat nicht mehr so lange gearbeitet.
    Ziemlich kurz darauf haben sie geheiratet. Sie kannten sich noch kein halbes Jahr, da bin ich sicher. Denn später sagte Carolyn immer Sachen wie: ›Ich muss verrückt gewesen sein, dich schon nach fünf Monaten zu heiraten. Fünf gottverdammte Monate. Denn nach dem sechsten Monat war mir klar, dass ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe.‹«
    Wahrscheinlich zitierte Rory wörtlich. Als er die Sätze aussprach, verzerrte sich sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse, und in seinem Tonfall schwang eine solche Verachtung mit, dass Anna zusammenzuckte. Offenbar hatte sich diese Szene ganz besonders deutlich in sein Gedächtnis eingebrannt.
    »Aber das war erst später. Ich

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