Blutköder
Reden überhitzt. Stimmen ohne Gesichter, Körpersprache oder Umgebung. Nur Wörter, die durch ein verworrenes Netz unpersönlicher Drähte rauschten. Anna nahm sich einige Minuten, um durchzuatmen, zu spüren, wie ihr Po den Stuhl und ihre Füße den Boden berührten, dem angenehmen Geräuschpegel im Büro zu lauschen und die Formen und Farben rings um sie herum wahrzunehmen. Als sie wieder in der Wirklichkeit angekommen war, wartete sie ab, bis die Informationsbruchstücke in Sachen Lester Van Slyke sich in ihrem Gehirn zu einem Gesamtbild zusammenfügten.
Abgehetzt. Besorgt. Angst, Carolyns Anrufe zu verpassen oder zu spät nach Hause zu kommen. Rory, der an seiner Stiefmutter hing und Les die Wiederverheiratung dennoch nicht verzieh. Rorys Verachtung für seinen Vater. Bescheiden. Zurückhaltend. Krankgeschrieben. Krankenhausaufenthalt. Das passte zu dem Eindruck, den Anna von Lester Van Slyke gewonnen hatte, auch wenn sie ihn zum fraglichen Zeitpunkt noch nicht hatte deuten können.
Eine Telefonistin bei der Auskunft nannte ihr die Nummer des Krankenhauses, in dem Lester behandelt worden war. Natürlich erfuhr Anna nichts. Im Gesundheitswesen wusste man sehr wohl, was man preisgeben durfte und was nicht.
Doch auch ohne Bestätigung war Anna sicher, was sie gesehen hatte: die Blutergüsse an Lesters Beinen, einige frisch, andere bereits verblassend, die Schnittwunden an seinen Unterarmen.
Sie faltete ihre Unterlagen zusammen, verließ das Verwaltungsgebäude und ging den halben Kilometer, vorbei an der mit Fichten bewachsenen Wohnsiedlung, zu der Unterkunft, die Rory mit drei anderen Jungen aus der Stadt teilte, um im Park alles über die Fauna und Flora zu lernen.
Als Anna anklopfte, öffnete ein afroamerikanischer Jugendlicher in Jogginghose und einem T-Shirt mit dem Emblem der New York Rangers die Tür. Rory war oben in seinem Zimmer. Zwei Rufe aus voller Kehle sorgten dafür, dass er die Treppe hinuntereilte. Auch er trug Jogginghose und T-Shirt und sah aus, als sei er aus dem Schlaf gerissen worden.
Anstatt Anna hereinzubitten, trat er hinaus auf die Veranda und schloss die Tür.
Anna entschied, ihm nicht die Zeit zu geben, seine Gedanken zu ordnen oder sich hinter einer Mauer zu verschanzen. Stattdessen baute sie sich vor ihm auf und stellte ihm schonungslos die Frage: »Rory, wie lange hat Carolyn deinen Vater schon als Boxsack missbraucht?«
12
Anna hatte gehofft, dass er auf den Frontalangriff reagieren würde, und wurde auch nicht enttäuscht. Rory erstarrte. Seine Gesichtsmuskeln waren vor Schreck wie gelähmt. Darauf folgte ein kurzer Kampf, und er vergaß, die Reglosigkeit beizubehalten, gelassen zu bleiben oder sich zumindest nichts anmerken zu lassen. Doch schließlich gewannen die Gefühle die Oberhand. Die versteinerten Wangen, die weit aufgerissenen Augen und die verzerrten Lippen lockerten sich. Im nächsten Moment kam es zum Zusammenbruch, und seine Züge wurden zu einer Grimasse. Rory fing an zu weinen. Nicht wie ein Junge, sondern wie ein Mann, der sich die Tränen jahrzehntelang verboten hat. Es war ein gepresstes, leises Wimmern, begleitet von Zuckungen. Die Augen blieben trocken.
Nur wenig später loderte Wut in ihm auf, so heftig, dass er herumwirbelte und mit den nackten Fäusten auf die hölzerne Hauswand einschlug. Es war eine Feuersbrunst, die sich nicht eindämmen ließ. Da die Veranda breit genug war, ging Anna unauffällig auf Abstand und wartete darauf, dass sein Zorn verrauchte. Der Ausbruch war so gewaltsam, dass Rory sicher nicht lange durchhalten würde.
Das Hämmern gegen die Wand verstummte. Rorys Fingerknöchel waren weder aufgeschürft noch bluteten sie. Also hatte er selbst in dieser Extremsituation beschlossen, sich nicht selbst zu verletzen. Ein gutes Zeichen. Die erstickten Schluchzer verebbten. Sein Gesicht war trocken und von den nicht vergossenen Tränen gerötet. Schließlich wandte er sich von der Hauswand ab und sah Anna mit nach dem Sturm leerem Blick an.
»Also«, sagte Anna. »Muss ich davon ausgehen, dass sie ihn schon seit einer Weile misshandelt hat?«
Rory sackte in sich zusammen. Den Rücken an die Wand gelehnt, rutschte er daran hinunter, bis sein Po die Veranda berührte und seine Knie auf Schulterhöhe waren. Dass das raue Holz ihm das T-Shirt bis unter die Achseln hochgeschoben hatte, schien er nicht zu bemerken.
Anna setzte sich ihm gegenüber, lehnte die Schultern ans Geländer und schlug die Beine unter. Nach dem Weinen und
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