Blutköder
erinnere mich noch, dass ihre Hänseleien mit der Zeit wirklich gemein wurden. Außerdem wurde sie schrecklich eifersüchtig. Immer musste sie wissen, wo Dad war, und wenn er nur zwei Minuten zu spät von der Arbeit nach Hause kam, bekam sie einen Anfall. Sie war den Weg nämlich selbst abgefahren und hatte die Zeit gestoppt, um rauszukriegen, wie lange es dauerte. Was das Haus anging, wurde sie richtig pedantisch. Alles musste so sein, wie sie es wollte. Abendessen gab es jeden Tag um Viertel nach sechs. Wehe, wenn man sich verspätete. Und falls Dad das Essen nicht richtig lobte, machte sie ihm eine Szene.
Sie fingen an, sich furchtbar zu streiten. Allerdings nie, wenn ich dabei war, sondern immer, nachdem ich schon im Bett lag. Mein Zimmer war oben im hinteren Teil des Hauses, aber gehört habe ich sie trotzdem. Keine einzelnen Wörter, nur Geschrei. Gepolter. Weinen. Am Morgen war dann immer etwas kaputt. Ich muss etwa zwölf gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass Mrs Dent, meine Lehrerin in der sechsten Klasse, mich zum Therapeuten schickte, weil ich im Unterricht dauernd einschlief. Der Therapeut war in Ordnung, hackte allerdings immer auf dem Thema Drogen herum, als ob ich ein Junkie gewesen wäre. Ich habe ihm nichts erzählt.«
Rory sah Anna an. Es war das erste Mal, dass er den Blick von der Vergangenheit abwendete. »Ich dachte, es wäre Dad«, verkündete er. »Anfangs habe ich geglaubt, dass Dad Carolyn schlägt. Wir hatten das Thema in der Schule durchgenommen, und im Fernsehen laufen ständig Filme darüber. Ich hatte gar keine Ahnung, dass es auch umgekehrt geht. Immerhin war Dad stärker als sie. Warum hat er sich nicht gewehrt?«
Er stieß diese Frage so eindringlich hervor, dass Anna ihm anmerkte, wie lange er sie schon mit sich herumtrug. Nun erwartete er mit kindlicher Beharrlichkeit eine Antwort von ihr, die sie ihm nicht geben konnte.
»Hast du ihn je darauf angesprochen?«, erkundigte sie sich stattdessen.
Rory war enttäuscht. Er sackte gegen die Wand, und seine Augen richteten sich wieder auf ferne Zeiten. »Einmal«, erwiderte er. »Er sagte, sie meine es nicht so und sei eben temperamentvoll. Es sei schwierig für sie, mit einem älteren Mann verheiratet zu sein. Außerdem sei er manchmal ziemlich anstrengend.« Rory schwieg eine Weile, sodass Anna schon annahm, dass er am Ende seines Berichts angelangt sei. Aber sie irrte sich, denn er fuhr mit vor Wut und Scham gepresster Stimme fort. »Dann sagte er, es mache ihm nichts aus. Damals lag er gerade im Krankenhaus. Carolyn hatte ihn mit dem Metallhocker, den sie in der Küche hatte, um die oberen Regale zu erreichen, ins Gesicht geschlagen. Die Unterseite der Sitzfläche war sehr scharfkantig. Sie hat ihm fast das halbe Gesicht abgetrennt. Die Narbe sieht man heute noch.« Anna hatte sie bemerkt – die dünne weiße Linie, die einen Halbkreis in Lesters Gesicht beschrieb. Sie hatten ein Motiv dafür gesucht, Carolyn Stirn, Wange und die halbe Nase abzuschneiden. Hier war es. Für Vater und Sohn.
»Hat sie dich je geschlagen?«, fragte Anna.
»Nicht wirklich. Einmal, ich war dreizehn oder vierzehn, wollte sie mir an den Kragen. Ich war im Garten und habe einen Ball gegen den Zaun gespielt. Etwas hat sie sauer gemacht. Sie kam raus und stürmte auf mich zu. Ich hatte solche Angst, dass ich den Baseballschläger gehoben habe. Ich glaube, ich hätte ihn auch benutzt. Inzwischen hatte ich nämlich rausgekriegt, warum Dad immer Beulen hatte oder hinkte. Ihretwegen war er schon zweimal im Krankenhaus gewesen. Einmal mit einem Schlüsselbeinbruch und einmal mit einem geplatzten Trommelfell. Deshalb habe ich mich wirklich gefürchtet, als sie auf mich zulief. Als sie bemerkt hat, dass ich mich wehren würde, blieb sie einfach stehen. Dann hat sie gelacht und gesagt: ›Recht so, Rory. Lass dir keinen Mist gefallen. Von niemandem.‹«
»Also hat sie dich nie misshandelt, als du klein warst? Dich geohrfeigt oder geschüttelt oder so?«
»Nein, nur Dad«, erwiderte Rory.
Es entsprach einer perversen Logik. Carolyn hatte keine Kinder missbraucht, sondern Männer. Und mit vierzehn war Rory im Begriff gewesen, ein Mann zu werden.
Vielleicht hatte es in Carolyns Welt nur zwei Sorten von Männern gegeben: die, die man schlug, und die, von denen man geschlagen wurde.
»Du scheinst dich recht gut mit ihr verstanden zu haben«, merkte Anna an.
»Schon. Nun, wenigstens hat sie sich von niemandem schlagen lassen.«
Dieser Satz fasste die
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