Blutköder
Beine zum strukturierten Denken an.
Häuser, Bäume, von Erdhörnchen gegrabene Löcher und Himbeerbüsche glitten an Anna vorbei. Ihre Gedanken kreisten um Themen wie indirekte Scham, zum Beispiel bei Rory und seinem Vater. Dazu Verlustängste. Furcht. Selbstwertgefühl. Gewalt. Kindheitstraumata. Rollenzuweisungen in der Familie: Sündenbock, Opfer, Held, Maskottchen. Hinzu kamen Bruchstücke der Theorie von der Koabhängigkeit, der Komplizenschaft mit dem Süchtigen, die sie von ihrer Schwester Molly aufgeschnappt hatte und die eindeutig eine Rolle bei der Entstehung der zerstörerischen Familienverhältnisse spielten, in denen Rory aufgewachsen war.
Seine leibliche Mutter hatte ihn durch ihr Sterben verlassen, als er fünf Jahre alt gewesen war. Seinem Bericht zufolge hatte Les sich in den folgenden beiden Jahren in die Depression geflüchtet. Dann war Carolyn auf der Bildfläche erschienen, und der Wahnsinn hatte erst richtig angefangen.
Verhältnisse wie diese machten einen Menschen nicht zwangsläufig zum Mörder, konnten aber dazu beitragen. Anfangs war Anna die Möglichkeit, dass Rory Carolyn umgebracht haben könnte, aufgrund der Umstände seines sechsunddreißigstündigen Verschwindens weit hergeholt und völlig absurd erschienen. Angesichts der neuen Informationen sah sie die Dinge jedoch inzwischen in einem anderen Licht. Rory war durch den Übergriff des Bären auf eine Person, die ihm etwas bedeutete – Joan –, traumatisiert und indirekt bedroht worden, denn schließlich hatte der Bär ihn weder bemerkt noch sich auf ihn gestürzt. In seiner Panik hatte Rory die Flucht ergriffen. Dann war er zufällig einem Menschen begegnet, den er fürchtete: Carolyn, die für ihn den Großteil seines Lebens die gleiche Rolle gespielt hatte wie der Grizzly. Unter dem Einfluss dieser Furcht, gepaart mit einer günstigen Gelegenheit und einem posttraumatischen Stresssyndrom, hatte Rory zugeschlagen und sie getötet.
Weiter kam Anna mit ihrer Beschreibung von Rory Van Slykes verschlungenen Gedankengängen nicht. Das Verstecken der Leiche – ja, das hätte wohl jeder getan, der nicht erwischt werden wollte. Das Gleiche galt für das Beseitigen der Kameras und das Entfernen des belichteten Films, nur für den Fall, dass das Opfer Fotos gemacht hatte. Doch Scheiben vom Gesicht der Toten abzuschneiden und mitzunehmen stand auf einem anderen Blatt.
Zu Annas Enttäuschung war Joan nicht zu Hause. Nicht etwa, weil sie vorgehabt hatte, sich ihrer widerwärtigen Last zu entledigen, indem sie sie bei ihrer Freundin ablud. Allerdings glaubte Anna, dass Rory eine Schulter zum Ausweinen brauchen würde, nachdem er seine jahrelang fest verbundene Wunde freigelegt hatte. Da ihre eigenen Schultern zu spitz und knochig waren, um als Klagemauer herzuhalten, hatte sie gehofft, dass Joan sich erbieten würde, nach dem Jungen zu sehen.
Als sie Joans Büronummer wählte, meldete sich nur die Voicemail. Die Geschichte war zu kompliziert, um sie elektronisch abzuhandeln, weshalb Anna auflegte, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Der Kühlschrank rückte widerwillig ein Stück Käse heraus, von dem man den Schimmel mühelos entfernen konnte. Ansonsten war noch eine Handvoll geschälter Minikarotten in einem Plastikbeutel vorhanden. Nachdem Anna den Käse von fremden Lebensformen befreit hatte, steckte sie ihn in ein Pitabrot und aß ihn auf dem Rückweg zur Zentrale.
Harry war nicht da. Das Gleiche galt für Maryanne, seine Sekretärin. Weil es Mittagszeit war, hatten sich alle bis auf die Empfangsdame aus dem Staub gemacht. Also ließ Anna sich auf Maryannes Drehstuhl vor dem Büro des Polizeichefs nieder, um auf ihren Vorgesetzten zu warten.
Anna hätte sich nie als Menschen bezeichnet, der gern seine Nase in fremder Leute Angelegenheiten steckte. Der Ausdruck »neugierig« oder schlimmstenfalls »ungeduldig« traf es ihrer Ansicht nach besser. Sich nach den Zeitplänen seiner Mitmenschen zu richten und gehorsam auszuharren, bis sie gnädigerweise mit ihren Informationen herausrückten, erschien ihr als Zeitverschwendung und deshalb der guten Laune abträglich. Es war eine ausgesprochen dehnbare Theorie, die sie häufig blind für Vergehen wie Hausfriedensbruch oder Verstöße gegen den Datenschutz machte.
Also nützte sie die Gelegenheit, die Papiere auf Maryannes Schreibtisch durchzublättern, ohne dabei ein Durcheinander anzurichten. Denn obwohl Anna ihr Handeln für absolut gerechtfertigt hielt, zog sie es vor, nicht dabei
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