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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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nicht weiter ausgeführtes »zwischenmenschliches Fehlverhalten« nicht gewalttätig. Straftäter, die ihre Verbrechen wie beispielsweise Scheckfälschung, Insidergeschäfte oder Betrug auf Papier begingen, waren Mord und Totschlag nicht stärker zugeneigt als ihre unbescholtenen Zeitgenossen, solange sie sich nicht unter Druck gesetzt fühlten. Allerdings führte ihre Berufswahl mit einer höheren Wahrscheinlichkeit als bei einem Schweißer oder der Kassiererin im Supermarkt an der Ecke dazu, dass sie durch Erpressung oder aus Angst vor Strafe in eine eben solche Drucksituation gerieten. McCaskils »zwischenmenschliches Fehlverhalten« war aus Stress heraus entstanden – und das Verbrechertum war eine Branche mit hohem Stressfaktor.
    Anna lehnte sich zurück. Der Computerbildschirm hatte sie angezogen, bis sie vornübergebeugt, den Kopf in einem unbequemen Winkel geneigt und die Augen zu nah am Monitor, dagesessen hatte. Sie rekelte sich auf ihrem Bürostuhl, bis ihre Knochen genüsslich knackten. Während sie sich im Internet verloren hatte, war das Büro zum Leben erwacht. Es roch nach frischem Kaffee, und das Stimmengewirr arbeitender Menschen lag in der Luft.
    Vorsichtig entspannte sie ihre Nackenmuskeln und richtete den Kopf in der Mitte der Wirbelsäule aus. Dann fügte sie Carolyn Van Slyke in das Bild von Bill McCaskil ein, das vor ihrem geistigen Auge entstanden war, um festzustellen, ob es zwischen den beiden noch eine andere Beziehung gegeben hatte als eine an der kalten Feuerstelle in Fifty Mountain geknüpfte Bekanntschaft.
    Hatte Carolyn McCaskil vielleicht erpresst? War er ihr in den Glacier gefolgt, um sie zu ermorden? Anna rief seine Zeltgenehmigung und die der Van Slykes auf. McCaskil war drei Tage vor ihnen eingetroffen. Es war durchaus möglich, dass er ihre Urlaubspläne in Erfahrung gebracht und ihnen im Park aufgelauert hatte. Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Welchen Grund hatte er, unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Wozu hatte er ein Formular ausgefüllt, sich in der Gesellschaft des Opfers beobachten lassen und war nach der Tat vor Ort geblieben?
    McCaskil stammte aus Florida, Van Slyke aus Seattle. Um einander zu begegnen, hätten sie eine weite Strecke zurücklegen müssen. Dennoch beschloss Anna, ihre früheren Adressen und Geschäftsverbindungen zu überprüfen. Was Anna zuerst einfiel, war eine Scheidung, bei der Carolyn entweder den Mann oder die Frau vertreten hatte.
    Ohne dass sie es bemerkte, ließ ihre gerade Haltung nach, als sie sich wieder dem Computer zuwandte, um den Van Slykes digital nachzuspüren. Ihr Auto, eine schauerliche Mischung aus BMW und Geländewagen, war auf Carolyn zugelassen. Anna stieß auf die Privatadresse der Van Slykes, die Rory ihr bereits genannt hatte, und die Tatsache, dass Carolyn eine unverbesserliche Raserin war: sieben Strafzettel in drei Jahren. Daraus konnte Anna nur schließen, dass Mrs Van Slyke sich entweder über das Gesetz erhaben gefühlt oder einfach nur einen Bleifuß gehabt hatte.
    Anna warf einen Blick auf die Fotokopie von Ruicks Notizen und Beobachtungen während seiner Vernehmung von Les, die seine Sekretärin netterweise für sie angefertigt hatte. In der oberen rechten Ecke standen in ordentlicher Druckschrift Rorys Name, seine Sozialversicherungsnummer, die Nummer seines Führerscheins und sein Geburtsdatum. Das waren zwar die Daten, die Anna gesucht hatte, doch sie erinnerten sie auf unangenehme Weise an ihren eigenen Schnitzer. Dass sie Rory kannte – oder das wenigstens geglaubt hatte – und dass er minderjährig war, hatte gegen sie gearbeitet. Sie hatte versäumt, sich seine persönlichen Daten geben zu lassen. Natürlich konnte sie sich die Informationen auch aus Joans Unterlagen holen, aber das tat hier nichts zur Sache. Sie war nachlässig gewesen. Das durfte nicht wieder vorkommen.
    Wird es bestimmt, verbesserte sie sich. Allerdings hoffentlich nicht in der nächsten Zeit.
    Auch ein Minderjähriger konnte Haftbefehle und Strafanzeigen ansammeln. Mord war kein altersabhängiges Verbrechen. Dass Jugendliche einander in der Schule umbrachten, hörte man immer wieder in den Nachrichten. Bei Amokläufen handelte es sich zwar um eine verhältnismäßig neue Erscheinung, doch dass Kinder Kinder töteten, war ein Schreckensbild, das viele wegen des Mythos einer unschuldigen Kindheit nicht zur Kenntnis nehmen wollten.
    Im Jahr 1995 hatte Molly an einer psychiatrischen Studie unter der Federführung dreier

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