Blutköder
Situation mehr oder weniger zusammen. Rory hatte zwischen einer Stiefmutter, die er fürchtete, und einem Vater, dessen er sich schämte, gestanden. Deshalb hatte ihm der angeborene Überlebensinstinkt eines Kindes geboten, sich an die stärkere Bezugsperson zu halten, und so hatte er von ihr gelernt, seinen Vater zu verachten. Anna fragte sich, wie weit dieses Gefühl gegangen war.
»Warst du je so genervt von Les, dass du ihm am liebsten selbst eine runtergehauen hättest?«, erkundigte sie sich anteilnehmend.
»Manchmal«, gab Rory zu. Seine Stimme bebte vor Zorn, als er fortfuhr. »Warum auch nicht? Er führte sich auf wie einer dieser kleinen kläffenden Hunde, die winseln und den Schwanz einziehen, bevor man sie überhaupt getreten hat. Da kriegt man doch erst richtig Lust dazu.«
Anna konnte das nachvollziehen. »Hast du es je getan? Zugetreten?«
»Ob ich Dad geschlagen habe?« Er dachte lange über diese oberflächlich betrachtet einfache Frage nach. Zu lange, um eine Lüge zu erfinden. Anna vermutete, dass sich Rory in all den Jahren sehr oft gegen die Demütigung hatte wehren wollen, die sein Vater für ihn verkörperte. Deshalb musste er entweder sichergehen, dass er es nie getan hatte, oder er zählte die einzelnen Schläge. Anna hoffte sehr, dass Ersteres zutraf. Von seinem eigenen Kind geschlagen zu werden war ein Abgrund, den nur Shakespeare oder Gott verstehen konnten.
Endlich ergriff Rory wieder das Wort. »Ich wollte es«, gab er zu. »Aber ich habe es nicht getan. Mom – meine wirkliche Mom – wäre dagegen gewesen. Ich habe mir gewünscht, dass Dad zurückschlägt. Wenigstens zu Anfang. Später war ich manchmal froh, wenn Carolyn ihn verletzt hat. Er war so … so jämmerlich. Es hat mich angekotzt.«
Rory sah wirklich aus, als sei ihm übel. Anna war ebenfalls flau im Magen. Bedrückt und niedergeschlagen saßen sie eine Weile schweigend da, während die Gespenster aus Rorys Kindheit sie umtanzten.
Schließlich hielt Anna die Hoffnungslosigkeit und Untätigkeit, die sie umfing, nicht mehr aus. »Hast du ihn je verteidigt?«, fragte sie.
Rory hatte, den Rücken an die Holzwand gelehnt und mit geschlossenen Augen, dagesessen. Die Sonne beschien seine Wangen und brachte den goldenen Flaum zum Leuchten, sodass er flüchtig und unfertig wirkte. Auf Annas Frage öffnete er die Augen, und die Konturen seines Gesichts wurden fest.
»Meinst du, ob ich Carolyn umgebracht habe?«, entgegnete er. Offenbar kümmerte es ihn nicht, ob Anna ihn für einen Mörder hielt.
»Mehr oder weniger«, räumte Anna ein.
»Ich war es nicht«, erwiderte er knapp. »Ich hatte mich einfach nur verirrt.«
Anna konnte nicht feststellen, ob er die Wahrheit sagte. Er schloss wieder die Augen und zog sich an einen Ort irgendwo in seinem Kopf zurück. Sie sah in seiner Miene nur Abstand und Erschöpfung.
»Ich glaube dir«, erwiderte sie. Wenn er die Wahrheit sagte, konnte die Lüge nicht schaden. Wenn nicht, sorgte sie vielleicht dafür, dass er unvorsichtig wurde. »Hast du mich deshalb erpresst?«, meinte sie. »Damit ich nicht rauskriege, dass dein Dad geschlagen wurde?«
Rory nickte wortlos.
»Ist jetzt Schluss mit diesem Mist?«
»Ja«, antwortete er.
»Das war mies von dir, Rory, wirklich mies.«
»Ich weiß.«
»Ich muss los.« Anna stand vom Boden der Veranda auf.
»Wirst du mit Dad sprechen?«, fragte Rory, ohne die Augen zu öffnen.
»Das hatte ich eigentlich vor.«
»Falls Dad sie umgebracht hat, hoffe ich, dass du es nie wirst beweisen können.«
Anna schwieg. Ohne die Verstümmelung wäre sie fast seiner Ansicht gewesen. Doch der Akt, Carolyn das Gesicht aufzuschlitzen, zeugte von einer so wahnsinnigen Wut, dass man den Täter dingfest machen musste, damit er keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr darstellte.
Ein plötzliches Schwindelgefühl erinnerte Anna daran, dass sie seit dem Vorabend nichts gegessen hatte, und sie machte sich an den kurzen Fußmarsch zu Joans Haus. Da sie geplant hatte, den Tag im Büro der Parkverwaltung zu verbringen, hatte sie nicht daran gedacht, Harry um ein Auto zu bitten. Nach dem Essen stand also ein Fahrzeug auf ihrer Liste.
Anna fand es nur selten lästig, zu Fuß zu gehen, anstatt zu fahren, und der heutige Nachmittag bedeutete da keine Ausnahme. Allein die Tätigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich nur mithilfe von Willen und Kraft voranzubewegen, verlieh dem Leben Sinn und ein festes Ziel. Außerdem regte die gleichmäßige Bewegung der
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