Blutköder
medizinischer Fakultäten an der Ostküste teilgenommen. Die Ergebnisse waren sehr bestürzend gewesen. Die Zwischenfälle, bei denen selbst Vierjährige »versehentlich« den Tod eines Freundes oder Geschwisters verursacht hatten, traten zu häufig auf, als dass man darüber hätte hinwegsehen können. Das Kind, das bei einem Fall ums Leben kam. Das Kind, das zufällig in den Bullenpferch geriet. Das Kind, das ertrank.
Begleitet von diesen finsteren Gedanken, die auch noch den letzten Rest von Fröhlichkeit verdüsterten, suchte Anna das Internet nach Informationen über Rory ab. Keine Strafanzeigen. Keine Haftbefehle. Keine Verkehrsdelikte. Nur mit dreizehn oder vierzehn Jahren war er mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und zwar weil er von zu Hause weggelaufen war. Anna nahm sich vor, den Grund in Erfahrung zu bringen.
Als nächster war Lester an der Reihe. Keine Treffer. Les hatte in den letzten sieben Jahren nicht einmal eine rote Ampel überfahren. Es gab Leute, die einem Computer viel mehr Daten aus Lesters Leben hätten entlocken können, doch Anna gehörte nicht dazu. Also würde sie auf die altmodische Methode vorgehen und sich auf die urzeitliche Praxis einlassen müssen, tatsächlich mit lebenden Menschen zu sprechen.
Sie wandte sich wieder Harrys Aufzeichnungen zu. Lester Van Slyke war als Ingenieur in der Qualitätssicherung von Boeing in Seattle tätig. Seine Frau hatte in der Anwaltskanzlei Crumley und Pittman, ebenfalls in Seattle, gearbeitet.
Zwei Anrufe später kannte Anna die Telefonnummer der Personalabteilung von Boeing. Nachdem sie dreimal weiterverbunden worden war, hatte sie die gewünschten Informationen – eine Liste der im Unternehmen beschäftigten Ingenieure für Qualitätssicherung. Lester war einer von neun in der Elektronikabteilung. Anna rief die acht anderen an. Drei waren zu sprechen. Ohne ausdrücklich zu lügen, vermittelte sie jedem von ihnen den Eindruck, es handle sich um eine Routinebefragung mit dem Ziel, Allgemeines über Lester Van Slyke in Erfahrung zu bringen, um ihm in einem staatlichen Projekt, an dem er als Berater beteiligt sei, eine höhere Sicherheitsstufe zubilligen zu können.
Mr Tremane war argwöhnisch und verriet Anna nichts. Mr Burman hatte kein Interesse daran, Lester behilflich zu sein, und schien ihm die erfundene Beratertätigkeit im Dienste der Regierung zu neiden. Er teilte Anna mit, Lester sei häufig krankgeschrieben, deutete an, er neige zu Unfällen, und fügte hinzu, die Regierung solle sich einen zuverlässigeren Berater, sprich, ihn selbst, suchen. Mr Richmond hingegen war ziemlich redselig und wollte Lester offenbar bei der Erlangung der fiktiven Sicherheitsstufe unterstützen. Er beschrieb Les als ruhig, zurückhaltend, bescheiden, intelligent, einfühlsam und fleißig und bedachte ihn noch mit einer Reihe weiterer Adjektive, die sich mit dem deckten, was Anna bereits wusste. Auf ihr Nachhaken räumte Richmond ein, dass Lester in den letzten Jahren ziemlich viel Pech gehabt habe und häufig krankgeschrieben gewesen sei. Wie der wohlmeinende Richmond hinzufügte, habe stets eine tatsächliche Erkrankung vorgelegen. Zweimal habe Lester sogar ins Krankenhaus gemusst.
Richmond gehörte zu den Leuten, die so gerne redeten, dass die pure Freude an der Bewegung der Zunge zwischen ihren Zähnen über Klugheit und Diskretion siegte. Er erklärte Anna, Les mache sich Sorgen um seinen Sohn. Der Junge schiene seine Stiefmutter zwar zu lieben, sei jedoch nie wirklich über den Tod seiner leiblichen Mutter und Les’ zweite Hochzeit hinweggekommen. Richmond hatte offenbar eine Schwäche für Gerüchte, denn er merkte außerdem an, Les habe stets nur positiv über seine zweite Frau gesprochen, allerdings nicht so liebevoll und mit einem Augenzwinkern wie über Rorys wirkliche Mutter. Carolyn hinge seiner Ansicht nach sehr an Les. Sie riefe ihn jeden Tag drei oder viel Mal im Büro an. Les werde nervös, wenn er einen Anruf verpasste, und rege sich schrecklich auf, falls er aus irgendeinem Grund Überstunden machen müsse. Anna ließ ihn das Thema noch einige Minuten lang ausführen und fügte »erschöpft, abgehetzt und besorgt« zu ihrer Liste von Beschreibungen hinzu. Dann erkundigte sie sich nach dem Namen des Krankenhauses, in dem Richmond Lester besucht haben wollte.
Nachdem sie alles Wissenswerte von Mr Richmond erfahren hatte, brauchte sie weitere fünf Minuten, um das Telefonat mit ihm zu beenden. Ihr Ohr und ihr Gehirn waren von dem vielen
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