Blutköder
Ruick.
»Klar.« In Gedanken ergänzte Anna wegen dieser Laune des Polizeichefs ihre Liste um einen weiteren sechzig Kilometer langen Gewaltmarsch.
Nachdem das Thema Militärjacke abgehakt war, machte sich Anna daran, Ruick ihr Gespräch mit Rory in Sachen Misshandlungen in der Ehe zu schildern. Sie hatte es nicht auf Band aufgenommen, weil sie befürchtet hatte, der Junge könne bei einer heiklen Angelegenheit wie dieser darauf mit Verschlossenheit reagieren. Stattdessen schnitt sie nun ihren eigenen Bericht mit, solange sie alles noch frisch im Gedächtnis hatte.
Ruick schwieg, als sie fertig war. Geistesabwesend wippte er auf seinem Stuhl hin und her und starrte auf den Parkplatz hinaus. Die Mittagspause war vorbei. Ein Auto nach dem anderen traf ein. Selbst in einem Nationalpark und an einem wunderschönen Sommertag fuhren die meisten Leute den Dreiviertelkilometer zur Arbeit mit dem Auto. Kein Wunder, dass nirgendwo auf der Welt so viele Übergewichtige lebten wie in Amerika.
»Die Verletzungen an seinen Armen und Beinen. Blutergüsse und Schnittwunden in verschiedenen Stadien des Abheilens. Bei einem Kind wäre es mir sofort aufgefallen«, meinte er schließlich.
Anna antwortete nicht. Ihr wäre es genauso ergangen. Bei einem Kind läuteten sofort sämtliche Alarmglocken. Bei einem erwachsenen Mann rechnete man nicht damit.
»Natürlich habe ich schon von Frauen gehört, die ihre Männer schlagen«, sprach Ruick weiter. »Mir ist nur noch nie so ein Fall untergekommen.«
Anna auch nicht. Sie nahm sich vor, Molly zu fragen, wie selten dieses Phänomen war.
»Es ergibt keinen Sinn«, sprach Ruick weiter. »Les ist zwar kein Tarzan. Er ist … war … was? Achtzehn Jahre älter als seine Frau?«
»Achtzehn«, bestätigte Anna nach einem Blick auf die in ihren Notizen vermerkten Geburtsdaten.
»Und nicht sehr gut in Form. Trotzdem war er mindestens fünfzehn Kilo schwerer und zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter größer als sie. Warum hat er sich dann nicht getraut zurückzuschlagen?«
»Weil er Angst hatte, verlassen zu werden«, entgegnete Anna mit Nachdruck. Sie erinnerte sich daran, wie es gewesen war, Zach zu verlieren. Was würde sie wohl alles hinnehmen, um nie wieder so empfinden zu müssen? » Es war, als hätten wir in Schwarz-Weiß gelebt, und plötzlich bekam unsere Welt wieder Farbe «, hatte Rory gesagt. Lester hatte eine Todesangst davor gehabt, in die schwarz-weiße Welt zurückkehren zu müssen. Offenbar war ihm deshalb selbst grün und blau als Fortschritt erschienen.
»Da wäre mir Verlassenwerden jederzeit lieber«, stellte Harry fest.
Anna vermutete, dass er nie den Tod einer Ehefrau hatte verkraften müssen. Falls er überhaupt je verheiratet gewesen war. Sie blickte sich im Büro um, konnte aber zwischen den allgegenwärtigen Urkunden der Nationalen Parkaufsicht und den Auszeichnungen keine Fotos von Frau und Kindern entdecken.
»Sind Sie verheiratet?«, fragte sie unvermittelt.
»Seit siebenundzwanzig Jahren. Ich bin lieber auf Nummer sicher gegangen. Eilene ist ein zartes Persönchen, das keiner Fliege etwas zuleide tun würde. Wie fänden Sie es, wenn wir beide noch einmal ein Schwätzchen mit Lester hielten?«
13
Lester verhielt sich so, wie es niedergeschlagene und trauernde Menschen meistens tun: nämlich völlig falsch. Die Vorhänge seines Zimmers im ersten Stock eines Motels waren zugezogen. Es war zu warm und stickig im Zimmer. Er hatte weder geduscht noch sich rasiert oder angezogen. In einem karierten Morgenmantel aus Flanell, der wahrscheinlich aus der Zeit vor der Geburt seines Sohnes stammte, saß er auf dem ungemachten Bett und sah fern.
Als er auf Harry Ruicks Klopfen die Tür öffnete, war Anna erschrocken, wie sehr sein Äußeres seit ihrer letzten Begegnung gelitten hatte. Das schüttere graue Haar war vom Liegen zerzaust. Farblose Bartstoppeln betonten faltige schlaffe Wangen, und verschwollene, gerötete Augen wiesen darauf hin, dass er den Großteil der Zeit weinend verbracht hatte. Das, oder er litt an einer Allergie.
Die plötzliche Helligkeit – oder der Kontakt mit der Realität – trieb ihm erneut die Tränen in die Augen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er zusammenhanglos.
»Wir möchten kurz mit Ihnen sprechen«, sagte Harry. Er nahm den Sommer-Stetson aus Stroh ab und hielt ihn sich wie ein Lenkrad vor die Brust. Anna wusste nicht, ob er es aus Pietät oder Höflichkeit tat. Jedenfalls gefiel ihr die Geste. Ihr Stetson hing zu Hause
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