Blutköder
an einem Haken im Wandschrank in Rocky Springs neben ihrer Dienstwaffe und weiteren nützlichen Dingen. Heute trug sie die alberne grüne Schirmmütze der Nationalen Parkaufsicht. Kurz überlegte sie, ob sie sich aus Ehrfurcht vor dem Alter oder vor den Toten ebenfalls die Mütze vom Kopf reißen sollte. Allerdings waren die Regeln, was Frauen, gute Manieren und Kopfbedeckungen anging, inzwischen so verschwommen, dass niemand mehr so recht wusste, was sich gehörte.
Also behielt sie die Mütze auf. Zusammengedrückt von Polyester, sah ihr Haar vermutlich nicht besser aus als Lesters.
Kurz wirkte Mr Van Slyke verdattert. Im nächsten Moment schien ihm ein Licht aufzugehen. »Natürlich«, meinte er. »Kommen Sie doch herein. Entschuldigen Sie die Unordnung. Ich …«
Die trügerische Sicherheit abgedroschener Phrasen zerbröckelte, und seine Stimme erstarb. Anna schob sich an Harry vorbei und unterzog Lester einer gründlichen Musterung. Seine Haut hing schlaff über Muskeln, die jegliche Spannkraft verloren hatten. Es war das Gesicht eines Mannes, der entweder einen leichten Schlaganfall oder einen Schock erlitten hatte. Sie nahm seine Hand und schüttelte sie, als wären sie einander gerade vorgestellt worden. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte sie leise. Seine Haut war trocken und warm. Also kein Schock. Wahrscheinlich nur eine gute alte Depression. Rasch schob sie die Erinnerung an die Wochen und Monate nach Zachs Tod beiseite. Damals hatte sie sich wie in Zeitlupe bewegt und sich durch ein Leben geschleppt, das so zäh und klebrig geworden war wie der Schlamm im Delta. Nur dass Zach sie nie geschlagen hatte. Zach gehörte zu den Leuten, die die Mäuse vor die Tür setzten und diese dann einen Spalt weit offen ließen, nur für den Fall, dass es kalt wurde und sie wieder hineinwollten.
Selbst ohne Carolyns Geist hätte die Stimmung im Zimmer genügt, um Anna in eine Depression zu stürzen. Wie Les bereits selbst angekündigt hatte, herrschte ein schreckliches Durcheinander. Der Inhalt eines Rucksacks und eines Koffers sowie die Überreste einer kaum angerührten Fastfood-Mahlzeit bedeckten alle verfügbaren Flächen. Neben einem runden Tisch, auf dem sich wild das schmutzige Inventar von Lesters Tagesrucksack türmte, stand die in Motels häufig anzutreffende unpersönliche Kreuzung aus Stuhl und Sessel. Sonst gab es nur noch das Bett.
Aus Respekt vor seinem Rang überließ Anna Harry den Stuhl, schob Kleingeld und Motelbroschüren beiseite und setzte sich auf die niedrige Kommode neben dem Fernseher. Lester hatte ihn nicht ausgeschaltet, als er an die Tür gegangen war. Die grellen Farben und störenden Geräusche aus dem Gerät waren das einzig Lebendige im Raum: verzerrt, aufdringlich und zusammenhanglos.
Anna beschloss, Harry die Führungsrolle abzutreten, und beobachtete, wie die beiden Männer Platz nahmen – Harry, den Hut in der Hand, an dem vollgestapelten kleinen Tisch und Les Van Slyke auf dem ungemachten Bett. Seine zerbeulten, mageren Knie ragten unter dem fadenscheinigen Morgenmantel aus Flanell hervor. Anna musste daran denken, dass Rory Les mit einem winselnden Hund verglichen hatte. Kein hübsches Bild, insbesondere nicht, wenn ein Junge seinen eigenen Vater so darstellte.
»Mr Van Slyke …«, begann Harry.
»Lester, Les«, erwiderte der alte Mann flehend. Sein demütiger Gesichtsausdruck löste in Anna den Wunsch aus, ihn kräftig in den Unterleib zu treten.
»Les«, verbesserte sich Harry. »Wir … oder besser Anna … hat mit Rory gesprochen. Er hat angedeutet, Ihre Beziehung zu Ihrer Frau Carolyn sei nicht so harmonisch gewesen, wie Sie behaupten.«
Lester zupfte an seinem Morgenmantel und drapierte ihn dezent über seinen Knien. Sobald er losließ, verrutschte das Kleidungsstück wieder. Er gab es auf. Nachdem so viel Zeit vergangen war, dass Anna all ihre Selbstbeherrschung aufbringen musste, um nicht selbst ein paar Fragen zu stellen, ergriff er endlich das Wort. »Alle Paare haben hin und wieder ihre kleine Krise. Carolyn war einige Jahre jünger als ich. Wahrscheinlich wurde sie manchmal ein wenig unruhig.«
»Haben Sie gestritten?«, hakte Harry nach.
»Die meisten Ehepaare streiten«, erwiderte Lester und nahm Blickkontakt mit dem Teppich zwischen den Spitzen seiner abgetragenen braunen Hauspantoffeln auf.
»Ist sie je gewalttätig geworden?«, erkundigte sich Harry.
»Carolyn war sehr aufbrausend«, antwortete Lester und lächelte zu Annas Überraschung, als
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