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Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
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würde, hatte er sich getäuscht. Anna lehnte sich an den Spiegel, machte es sich bequem und wartete darauf, dass der Tränenstrom versiegte.
    Offenbar hatte der Polizeichef tatsächlich mit etwas dergleichen gerechnet. Als er bemerkte, dass Anna sich nicht von der Stelle rührte, legte er seinen Hut auf den Haufen, der sich auf dem Tisch türmte, erhob sich, beugte sich verlegen vor und klopfte Les auf die Schulter. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen. Wieder kochte Ärger in Anna hoch. Sie überlegte, ob sie ihm die klassischen Trostworte »aber, aber« vorschlagen sollte, verkniff es sich jedoch.
    Als Lester sich beruhigte, zog sich Ruick mit nicht sehr schmeichelhafter Geschwindigkeit wieder auf seinen sicheren, abseits stehenden Stuhl zurück.
    Mühsam rang Les um Fassung – falls er diesen Zustand überhaupt jemals erreichen würde. Ein Taschentuch wurde hervorgekramt, die Augen wurden abgetupft, und die Nase wurde geputzt. Darauf folgten ein Schluck Wasser und ein Zurechtrücken des Morgenmantels. Dann machte er sich daran, die Fragen ehrlich zu beantworten.
    Allerdings brachte das keine neuen Erkenntnisse. Ehrlichkeit war eine Sache des Betrachters, und falls Les je in der Lage gewesen sein sollte, seine Lebenssituation sachlich – oder besser mit den Augen eines Außenstehenden – zu sehen, hatte er diese Fähigkeit schon vor Langem verloren. Die nicht miteinander zu vereinbarenden Bedürfnisse, weiter in den Spiegel schauen zu können und dennoch mit Carolyn zusammenzubleiben, mussten unbedingt in Einklang gebracht werden. Und das war nur möglich, indem man sich eine neue Wahrheit zurechtzimmerte, in der es annehmbar, ja sogar bewundernswert war, ein Opfer zu sein. Und so gelang es Lester nicht, aus der selbst geschaffenen Wirklichkeit auszubrechen, als er ihnen nun die Übergriffe seiner Frau schilderte. »Sie war aufbrausend« und »Manchmal verlor sie die Beherrschung« war alles, was er zustande brachte. Der Schlüsselbeinbruch und das geplatzte Trommelfell waren Unfälle. Sie hatte es nicht so gemeint. Lester hatte eben den Fehler gemacht »hü« und nicht »hott« zu sagen. Die Litanei wurde bis zum Erbrechen fortgesetzt. Den Schlag mit dem eisernen Küchenhocker, von dem er eine Narbe im Gesicht zurückbehalten hatte, überging er einfach, als wäre er nicht erwähnenswert. Als wäre er nie geschehen.
    Über Rory, dem der plötzliche Tränenausbruch angeblich gegolten hatte, da es in seinem, Lesters, Leben ja keinen Grund zum Weinen gab, sagte er: »Der Junge hätte es sich nicht so zu Herzen nehmen sollen. Mir hat es nichts ausgemacht.«
    Anna hatte bei diesem Satz nicht Lesters bebende, schwache Stimme im Ohr, sondern den verzweifelten Aufschrei seines Sohnes, der ihn am Vormittag wortwörtlich ausgesprochen hatte.
    Harry nahm mehr Rücksicht auf Lesters Gefühle, als Anna es an seiner Stelle getan hätte. »Wir sind fast fertig, Mr … Les«, meinte er dann. »Wir haben Verständnis dafür, wie schwer es für Sie sein muss. Wirklich schwer. Wir bedauern …«
    Einen Moment befürchtete Anna schon, er würde die hohle Phrase nachplappern, die derzeit in Krimiserien so beliebt war: »Wir bedauern Ihren Verlust.« Doch er tat es nicht.
    »… aber wir müssen Ihnen leider noch einige Fragen stellen. In einem Fall wie diesem kann man nicht immer taktvoll sein.«
    »Schon gut«, erwiderte Les. Er nahm das zuvor weggesteckte Taschentuch aus der Tasche seines Morgenmantels und putzte sich ausgiebig die Nase. »Nur zu.«
    »Sie sagten vorhin, die Jacke aus Militärbeständen, die Ihre Frau trug, sei nicht ihre eigene gewesen. Haben Sie eine Vermutung, wem sie gehören könnte?«
    Les hielt den Kopf gesenkt und putzte sich noch einmal die Nase, obwohl das nicht nötig war. »Vielleicht war es ja doch die von Carolyn«, antwortete er. »Sie kaufte sich ständig neue Sachen. Ich habe nie so richtig darauf geachtet.« Er log. Ein Mann mochte es vielleicht nicht bemerken, wenn seine Frau einen andersfarbigen Lippenstift benutzte oder eine neue Bluse trug. Doch wenn sie plötzlich in einer zu großen Tarnjacke der U.S. Army herumlief, wäre es ihm sicher aufgefallen.
    Ruick nickte langsam. »Aha«, meinte er. Anna fragte sich, ob er dasselbe sah wie sie: die Schwanzspitze eines Wiesels, das in sein Versteck huschte.
    »Vielen Dank, dass Sie uns Ihre Zeit geopfert haben.« Harry erhob sich und griff nach seinem Stetson. »Bevor Sie weitere Entscheidungen treffen, müssen wir uns noch einmal

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