Blutköder
handle es sich um eine angenehme Erinnerung. »Sie hatte Temperament.«
»War sie Ihnen gegenüber je gewalttätig?«, wiederholte Harry.
Bei diesen Worten zeichnete sich Erschrecken auf Lesters Gesicht. Seine mageren bleichen Hände huschten über seine Knie wie aufgescheuchte Spinnen in einer Höhle. »Wie meinen Sie das?«, entgegnete er.
»Hat sie Sie geschlagen, gekratzt oder mit Gegenständen beworfen«, führte Harry es näher aus. Sicher wusste Ruick ebenso wie Anna, dass Lester Zeit gewinnen wollte, und hatte aus nur ihm bekannten Gründen beschlossen, sie ihm zu geben.
»Manchmal ist sie böse geworden«, räumte Lester ein. »Ein oder zwei Mal hat sie auch mit Gegenständen geworfen. Carolyn war eine komplizierte Frau, während ich schon immer einfach gestrickt war. Hin und wieder wurde es ihr zu viel. Insbesondere, weil sie beruflich unter starkem Druck stand. Dann musste sie ein wenig Dampf ablassen.«
Eigentlich hätte Anna ihn für seine Loyalität bewundern sollen, aber sie tat es nicht. Häusliche Gewalt trat überall dort auf, wo Menschen zusammenlebten, sei es nun in Häusern, Zelten oder Wohnwagen. Im Laufe der Jahre hatte sich Annas Verständnis für die Zuneigung des Opfers zum Täter zu einer an Wut grenzenden Ungeduld verhärtet. Molly hatte ihr die psychische Dynamik in einer Missbrauchsbeziehung erklärt. Doch obwohl Anna es gedanklich nachvollziehen konnte, spielte ihr Gefühl nicht ganz mit.
Bis auf das Lächeln wegen des »Temperaments« seiner verstorbenen Frau ließ Lester sich nichts anmerken. Nun warf Harry Anna einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen und geschürzten Lippen zu, den Anna als Hinweis darauf deutete, dass Rory seiner Ansicht nach übertrieben oder womöglich unverfroren gelogen hatte. Angesichts von Mr Van Slykes Gleichmut verstand Anna, wie Harry auf diesen Gedanken kam. Allerdings war er nicht dabei gewesen und hatte weder Rorys Miene gesehen noch seine Stimme gehört, während er die Geschichte erzählte. Auch wenn Rory nicht alle Tatsachen richtig wiedergegeben hatte, wäre Anna jede Wette eingegangen, dass er selbst an den Wahrheitsgehalt seiner Worte glaubte.
Das Gleiche galt auch für sie. Die meisten Menschen hätten auf Harrys Frage mit einem »Warum interessiert Sie das?« geantwortet. Les hingegen hatte keine Spur von Neugier gezeigt. Er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, auszuweichen, zu beschönigen und zu rechtfertigen – alles wichtige Werkzeuge, um ein Gebäude des Leugnens zu errichten.
Harrys Augenbrauen waren ein Zeichen dafür, dass er sich geschlagen gab. Anna deutete das als Bitte um Unterstützung und warf sich ins Getümmel.
»Mr Van Slyke«, begann sie und fuhr ohne Pause fort, um seinem Einwand, sie müsse ihn »Les« nennen, keinen Raum zu lassen. »Als Harry Sie gefragt hat, ob Ihre Frau Ihnen Gewalt angetan hat, meinte er die Male, als Sie diese Verletzungen im Krankenhaus behandeln lassen mussten. Ihr Sohn sagte, sie habe Ihnen das Schlüsselbein gebrochen, Ihnen ein geplatztes Trommelfell zugefügt und ihnen einmal das Gesicht mit einem Küchenhocker aufgeschlitzt.«
Die schonungslosen Worte hatten nicht die erhoffte Wirkung. Unter der fahlen, schlaffen Haut schien etwas in Bewegung zu geraten, doch das konnte genauso gut daran liegen, dass Rory abstruse Lügen verbreitete, wie an der Enthüllung der Wahrheit.
»Warum behauptet Rory so etwas?«, meinte Les verdattert. Allerdings nicht verdattert genug. Seine linke Hand glitt seinen rechten Arm hinauf, und er fuhr sich mit dem Zeigefinger vorsichtig über die Narbe, die sein Gesicht teilte.
Anna, die die Geste bemerkt hatte, verstand ihn absichtlich falsch. »Rory hat es gesagt, weil der Junge seinen Vater liebt und weil es ihm das Herz gebrochen hat, mit ansehen zu müssen, wie Sie misshandelt wurden.«
Nun erfolgte endlich die gewünschte Reaktion. Mit Honig konnte man nicht nur mehr Fliegen einfangen, sondern auch mehr von ihnen töten. Kurz hatte Anna ein schlechtes Gewissen, weil sie mit Les’ Gefühlen spielte. Aber es hielt nicht lange vor.
Les rieb sich mit beiden Fäusten die Augen wie ein Kleinkind. Tränen schlängelten sich über seine Fingerknöchel, und seine runden Schultern erzitterten, als er heftig aufseufzte.
Harrys tadelnde Miene galt nicht dem weinenden alten Mann, sondern Anna. Sie schnaubte durch die Nase und stieß einen winzigen Schwall Luft aus. Falls er glaubte, dass sie jetzt aufspringen und tröstend ihre weiblichen Arme um Les legen
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