Blutköder
Nackenwirbel. Anna war überrascht. Wegen der Gesichtsverletzung hätte sie eher auf eine Kopfwunde getippt und gedacht, die Verstümmelung habe auch dem Zweck gedient, diese zu tarnen.
»Hat der Täter ihr einfach den Kopf herumgedreht, bis ihr Genick gebrochen ist?«, erkundigte sie sich. Das hatte sie zwar schon in zahlreichen Filmen gesehen, jedoch im wirklichen Leben noch nie mit einem solchen Fall zu tun gehabt. Aus unerklärlichen Gründen fand sie diese Vorstellung abstoßender als das Schneiden und Zerhacken.
»Nein«, erwiderte Harry. »Es ist noch seltsamer.« Er reichte ihr den Bericht, aus dem er ihr vorgelesen hatte, sodass sie die letzte Hälfte der Seite selbst überfliegen konnte.
Jemand hatte Carolyn Van Slyke mit einer solchen Wucht seitlich auf den Kopf geschlagen, dass ihr Genick gebrochen war. Dabei war nicht nur das Rückenmark gekappt worden. Es hatte ihr außerdem so blitzartig und heftig den Schädel zur Seite geschleudert, dass er über die Schulter hinaus in Richtung Schlüsselbein geschnellt war. Die äußeren Ränder von drei Wirbeln waren abgeknickt, Muskeln und Sehnen im Hals überdehnt.
»Bei einer solchen Drehung muss ihr jemand eine mit dem Stück von einem Baumstamm verpasst haben«, meinte Anna.
»Kein Baumstamm«, widersprach Ruick. »Was fehlt?«
Anna mochte keine Quizfragen. Andererseits liebte sie die Herausforderung. Sie verbrachte eine halbe Minute damit, das Vorgelesene noch einmal zu studieren, und las dann erneut die letzten Absätze. »Aha!«, rief sie aus, als ihr endlich ein Licht aufging. »Keine Kopfverletzung. Keine Aufprallstelle, keine Brüche und so weiter.«
»Sie wurde von etwas Weichem getroffen«, stellte Ruick fest.
»Dem Unterarm eines Mannes zum Beispiel?«
»Mir ist noch nie ein Mann begegnet, der so fest zuhauen konnte.«
»Dann eben ein Tritt, ein Stoß mit einer in einem Stiefel steckenden Wade à la Jean Claude Van Damme?«
»Das hätte aber ein ordentlicher Tritt sein müssen.«
»Und wenn sie bereits bewusstlos war und der Mörder ihr den Kopf heruntergedrückt hat?«
»Mir ist auch nichts Besseres eingefallen«, gab Ruick zu. »Doch Dr. Janis, die Rechtsmedizinerin, sagte, wenn es sich so langsam abgespielt hätte, wäre das Rückenmark gequetscht worden. Dass es durchtrennt wurde, weist auf einen einzigen schnellen und harten Schlag hin.«
»Wie hilfreich«, meinte Anna spöttisch. »Hatte Dr. Janis sonst irgendwelche Vorschläge?«
»Einen. Sie hat mir erzählt, sie habe einmal einen Jungen in Helena obduziert, der auf diese Weise ums Leben gekommen war. Der Kleine war sieben Jahre alt. Sein neunzehnjähriger Bruder und dessen Kumpel hatten einen über den Durst getrunken und angefangen, einen schweren, gepolsterten Boxsack an einer Kette hin und her zu schubsen. Der Junge ist dazwischen geraten und wurde mit voller Wucht oberhalb des linken Auges getroffen. Dabei wurde sein Kopf zurückgerissen, und das führte zu den gleichen Verletzungen wie bei unserer Lieblingsleiche.«
»Wenigstens wissen wir jetzt, wonach wir suchen müssen«, erwiderte Anna. »Nach einem Typen, der einen riesengroßen Boxsack durch die Wildnis schleppt. Dürfte nicht schwer zu finden sein.«
»Ich wünschte, ich hätte weitere Anhaltspunkte, aber mehr habe ich leider nicht zu bieten.«
Anschließend erörterten sie Annas und Joans Rückkehr ins Hinterland. Anna war dagegen, dass Rory mit von der Partie sein sollte, obwohl sie nicht genug in der Hand hatten, um ihn wegen Mordes an seiner Stiefmutter zu verhaften. Da er inzwischen behauptete, die ganze Zeit über zwei Wasserflaschen bei sich gehabt zu haben, galt er kaum noch als Verdächtiger, und es gab keine Anhaltspunkte, aufgrund derer die Geschworenen einer Anklageerhebung zustimmen würden. Ruick hatte zwar auch seine Bedenken, wollte aber auf jeden Fall verhindern, dass die Van Slykes den Park verließen. Wenn man Rory erlaubte, weiter am DNA -Projekt teilzunehmen, würde nicht nur er, sondern auch Les in der Gegend bleiben. Rorys Vater war fest entschlossen, seinen Aufenthalt im Fifty Mountain Camp wie geplant fortzusetzen, damit er und sein Sohn gemeinsam zurück nach Seattle reisen konnten.
»Keiner will ohne den anderen gehen, und beide können es nicht erwarten, wieder auf dem Flattop Mountain zu sein«, sagte Anna. »Warum?«
»Vermutlich ist es genau das, was wir herausfinden müssen.«
Sie schlossen einen Kompromiss. Falls Joan Rand ablehnte, war es vorbei mit Rorys Mitarbeit. War sie
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