Blutköder
konnte. Ob Grizzly oder Schwarzbär war nicht festzustellen, da die beiden Arten um diese Jahreszeit mehr oder weniger das Gleiche fraßen. Die schiere Menge wies auf einen männlichen Grizzly hin. Allerdings erreichten manche besonders imposanten Schwarzbären eine ähnliche Größe. Aus unwissenschaftlichen Gründen war Anna sicher, dass der Kot nicht nur von irgendeinem Grizzly, sondern von ihrem ganz persönlichen Grizzly stammte.
Angesichts seiner ausgewaschenen und dann angetrockneten Beschaffenheit war der Haufen vor dem Regen, jedoch nicht allzu lange davor, hinterlassen worden. Anderenfalls wäre er völlig vertrocknet gewesen und vom Wolkenbruch auf seine festen Bestandteile reduziert, nicht nur geglättet worden.
Also war der Kothaufen aller Wahrscheinlichkeit nach fünf bis sechs, im höchsten Fall sieben Tage alt. Etwa um diese Zeit war Mrs Van Slyke keine zwanzig Meter von hier getötet, ihr Gesicht verstümmelt und das Fleisch im Baum versteckt worden.
Der Mörder war hier gewesen. Der Bär – oder ein Bär – ebenso. Es war durchaus vorstellbar, dass der Geruch des Fleisches in den Plastiktüten hoch im Baum ein vorbeiziehendes Tier angelockt hatte. Schließlich hatten Bären ausgezeichnete Nasen. Allerdings konnte Anna keine Anzeichen dafür feststellen, dass dieser Bär irgendeinen Versuch unternommen hatte, an das Futter heranzukommen: keine Kratzspuren am Stamm oder an den unteren Ästen, kein aufgewühltes Laub oder zertrampelte Erde rings um den Baum, wie man es bei einem verärgerten, einhundertfünfzig Kilo schweren Aasfresser erwartet hätte.
Es sah ganz danach aus, als sei der Bär einfach auf diese winzige Lichtung gekommen, habe in aller Ruhe seine Notdurft verrichtet und sich anschließend wieder getrollt. Das war nicht gesetzlich verboten. Anna musste an den alten Witz »Wohin scheißt ein Bär im Wald?« denken und schmunzelte unwillkürlich.
Allerdings waren das einfach zu viele Zufälle. Bären – ob Grizzlys oder andere – waren zwar die berühmtesten Bewohner des Glacier National Parks, doch obwohl der Park über viertausend Quadratkilometer groß war, lebten hier nicht sehr viele von ihnen. Laut Statistik der Parkverwaltung belief sich die Population auf knapp dreihundert Tiere. Eines der Ziele der DNA -Studie war, ihre Anzahl genauer festzulegen. Anna wünschte, sie hätte eine von Joans praktischen Kotprobendosen eingepackt. Also behalf sie sich mit einem Asservatenbeutel – diesmal aus Plastik – und sammelte einen Löffel voll für die Bärenforscherin ein. Sie erkannte einige der üblichen Bestandteile von Bärenkot: Beerensamen, Zweige und Gräser, zumeist in unversehrtem Zustand. Der Großteil dieser Kotprobe setzte sich jedoch aus einer stumpfen, braungrauen, körnigen Masse zusammen, die eher an verdaute Erde als an Pflanzen erinnerte. Ein Geheimnis, das Joan enträtseln sollte. Solange keine Knöpfe, Gürtelschnallen oder menschliche Fingerknochen dabei waren, konnte Anna sich nicht dafür begeistern.
Obwohl sie froh war, die Lichtung mit der Fichte hinter sich lassen zu können, fürchtete sie sich vor dem dichten Unterholz. Deshalb kostete es sie alle Willenskraft, den Weg den Berghang hinauf und durch das Dickicht in einem vernünftigen Tempo zurückzulegen. Das Bedürfnis, sich panisch mit beiden Händen aus dem Gestrüpp zu kämpfen, wurde erst schwächer, als sie nicht nur den offenen sonnigen West Flattop Trail erreicht hatte, sondern auf Ponces breitem Rücken saß. Cowboys hatten im Sattel mehr Mut. Das war eine nur wenig bekannte Ergänzung des Gesetzes, das im Wilden Westen galt.
Es hatte keine logischen Gründe – nur ein schwerer Fall von Gruseln –, dass Anna zunächst einige Kilometer zwischen sich und die fleischfressende Fichte brachte. An einer Kurve im Weg waren auf einem mit Geröll bedeckten Berghang Tausende einzelner mit Erde gefüllter Pflanzkübel entstanden, die von atemberaubend gelben, blauen und roten Blüten strotzten, sodass Anna sich fragte, wie ein menschlicher Gärtner es auch nur wagen konnte, da mithalten zu wollen. Sie band Ponce an einen inmitten leckerer hoher Gräser liegenden umgestürzten Baumstamm und leerte ihren Rucksack: Wasser, Lebensmittel, Landkarte, Päckchen mit Beweismitteln. Anna beschloss, zuerst zu Mittag zu essen. Vom Herumklettern im Baum hatte sie Magenknurren wie ein tollendes Kind.
Nachdem sie ein Brot mit Erdnussbutter und Honig verspeist hatte, konnte sie sich besser auf ihre Funde
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