Blutkrieg
das Geräusch gehört zu haben, mit
dem Eis und Schnee unter seinem Gewicht nachgegeben haben
mussten. Irgendetwas … Unheimliches ging hier vor.
Andrej schüttelte den Gedanken ab. Möglicherweise hatte Abu
Dun ja Recht gehabt, und sie waren tot in der Hölle, und das hier
war nichts als der Auftakt zu einer Qual, die bis in alle Ewigkeit
dauern würde. Doch wenn es so war, nutzte es nichts, sich den
Kopf darüber zu zerbrechen. Andrej prüfte noch einmal, so gut
es eben ging, die Festigkeit des Untergrundes, dann schob er
sich behutsam weit genug vor, um in die Tiefe blicken zu
können.
Der Schacht setzte sich unter ihm auf den ersten vielleicht drei
oder vier Metern senkrecht fort, bis sich seine Wände ganz
allmählich nach links neigten und schließlich aus seinem
Blickfeld verschwanden. Ein leichter Dunst stieg aus der Tiefe
empor, berührte sacht wie schwebender Altweibersommer sein
Gesicht, feucht und sonderbarerweise warm.
»Abu Dun?«, rief Andrej. Die wattigen Schneemassen
ringsum sogen seine Worte auf, und aus der Tiefe kam keine
Antwort, nicht einmal ein Echo. Andrej zögerte, lauschte,
versuchte es noch einmal und noch einmal, immer ein bisschen
lauter, bis er schließlich aus Leibeskräften schrie. Doch nichts
geschah. Es blieb ihm nur noch eine Wahl.
»Verdammter Pirat«, brummte er, während er sich mühsam am
Rande des unheimlichen Schachtes aufrichtete und mit steif
gefrorenen Fingern versuchte, seinen Mantel zu öffnen. Der
bretthart gewordene Stoff knisterte, als wolle er zerbrechen, und
als Andrej den Dolch aus dem Gürtel zog, durchfuhr ihn
stechender Schmerz. Um ein Haar hätte er die Waffe fallen
gelassen. Er blies einige Male in seine rechte Hand und bewegte
prüfend die Finger, doch das Ergebnis war nicht ermutigend.
Selbst sein Atem schien kälter zu sein als die Luft um ihn
herum.
Andrej überlegte einen Moment, dann rollte er sich vorsichtig
zur Seite und hielt die Hand in den grauen Nebel, der aus der
Tiefe des Schachtes emporstieg. Er hatte sich nicht getäuscht. Es
war kein Dunst, sondern Dampf, und er war warm. Als er die
Hand zurückzog, glänzte sie feucht, als hätte er einen
durchsichtigen nassen Handschuh übergezogen. Der Tau begann
augenblicklich auf seiner Haut zu gefrieren, doch Andrej
schöpfte neue Hoffnung. Er rief – ohne große Hoffnung – noch
einmal Abu Duns Namen, suchte sich dann einen sicheren Halt
dicht am Rand des Schachtes und streckte den rechten Arm aus,
um die Hand in die Dampfschwaden zu halten. Er verharrte
lange, und als das Leben allmählich wieder in seine
abgestorbenen Glieder zurückkroch, schmerzte es so sehr, dass
ihm Tränen in die Augen schossen. Doch er biss die Zähne
zusammen, und was sein Wille allein nicht vollbracht hätte,
schaffte sein Körper, der zehnmal so stark war wie der eines
normalen Menschen und ungleich zäher. Irgendwann war er so
weit, dass er die Finger der rechten Hand wieder bewegen und
ein paar Mal prüfend zur Faust ballen konnte. Andrej hätte die
Prozedur gerne mit der linken Hand wiederholt, doch ihm war
klar, dass er, würde er beide Hände in den heißen Dunst halten,
das Gleichgewicht verlieren und kopfüber hinter Abu Dun
herstürzen würde. Die rechte Hand musste eben reichen.
Andrej griff nach dem Dolch, den er neben sich in den Schnee
gelegt hatte, stützte sich mit beiden Händen am Rand des
Schachtes ab und ließ seine Füße behutsam in die Tiefe gleiten.
Instinktiv versuchte er, Halt an den spiegelglatten Wänden zu
finden, war aber nicht überrascht, als es ihm nicht gelang.
Gerade, als er den Punkt erreicht hatte, an dem seine Kräfte zu
versagen drohten, rammte er den Dolch mit aller Gewalt in die
Wand. Die Klinge drang mühelos in die halb durchsichtige
Wand ein. Damit hatte er selbst nicht gerechnet, wusste er doch,
dass Eis hart wie Stahl sein konnte. Doch als er sein
improvisiertes Steigeisen vorsichtig mit dem ganzen
Körpergewicht belastete, gab es nicht im Mindesten nach.
Mutiger geworden, ließ sich Andrej weiter nach unten gleiten,
stemmte beide Füße gegen die Wand vor sich und den Rücken
gegen die hinter sich, um sich auf diese Weise Halt zu
verschaffen wie ein Bergsteiger, der durch einen Kamin klettert.
Auch das gelang ihm besser, als er zu hoffen gewagt hatte, und
Andrej wurde noch mutiger. Er zog den Dolch heraus. Auf der
Stelle verlor er jeglichen Halt.
Mit einem gellenden Schrei stürzte er in die Tiefe.
Er fiel nur
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