Blutleer
elektronisches Tagebuch gab es, voll mit Teenagerträumen und Teenagerwut.
Barbara schaltete den Computer wieder aus und setzte sich in einen der gemütlichen Sessel. Sie war es gewöhnt, dass die Aktivitäten der Opfer ihr etwas erzählten, aber in diesem Fall, wo es keine Gemeinsamkeiten gab, wartete sie vergeblich. Julias Gehörlosigkeit fiel ihr ein. Die Gebärdensprache, mit der Julia und ihre Freundinnen so vielen S-Bahn-Reisenden aufgefallen waren. Es war, als würde sie die Sprache des Opfers diesmal nicht beherrschen.
An der Wand neben dem Sessel hingen Ausdrucke von Fotos, die Qualität war nicht sehr gut, Barbara schätzte, dass es Handyfotos waren. Sie zeigten Julia und andere etwa gleichaltrige Mädchen in verrückten Posen und Grimassen. Ein fröhliches Mädchen. Und Barbara war so weit davon entfernt, deren Mörder zu finden wie noch nie in ihrer Laufbahn.
Sie stieg die Zugtreppe wieder nach unten, schob sie ineinander und gab der Klappe eine Stoß. Butterweich fuhr sie nach oben.
Als Barbara wieder ins Wohnzimmer kam, saßen bei Jakubian und Sven nicht nur Olga sondern inzwischen auch Harald Dewus. Barbara erinnerte sich an ihre kurze Begegnung mit ihm im Präsidium nach Hirschfelds Verhaftung. Er machte zwar äußerlich nach wie vor einen sehr distinguierten Eindruck, aber gerade als Barbara den Raum betrat, sagte er sehr scharf: »Frau Janicek wird Ihnen kein Wort mehr sagen, bis mein Anwalt da ist und sie vor solchen Unverschämtheiten schützt. Es ist wirklich nicht zu glauben. Dieser Hirschfeld bringt … bringt Julia um, wird selbst ermordet, was nun wirklich keinem Leid tun muss, und plötzlich werden völlig unschuldige Leute mitten in ihrer Trauer beschuldigt, ihn ermordet zu haben.« Er stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Wissen Sie was? Ich wünschte, ich hätte es getan. Ich wünschte, ich hätte ihn eigenhändig umgebracht.«
»Und? Haben Sie?«, fragte Barbara provokant.
Dewus bemerkte sie erst jetzt. »Wer sind Sie denn? Kenne ich Sie nicht?«
»Das ist Dr. Barbara Hielmann-Pross«, stellte Jakubian Barbara vor. »Sie ist unsere Fallanalytikerin.«
»Da hätten Sie mal eher etwas tun müssen, Frau Dr. – ?«, sagte Dewus verächtlich. »Dann könnten Julia und die kleine Türkin vielleicht noch leben.«
Barbara ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Im Moment geht es nur um den Anschlag auf Hirschfeld. Sie erregen sich sehr über den Mord an Julia, das geht Ihnen an die Nieren, nicht wahr?«
Er wurde von einem Moment zu anderen ruhig. »Olga lebt seit zwanzig Jahren in meinem Haus, und ich habe Julia aufwachsen sehen. Wir … wir sind so etwas wie eine Familie.« Entschlossen sah er Jakubian an. »Wenn Sie Olga vernehmen wollen, dann im Beisein eines Anwalts. Jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen.«
Die drei gingen zurück zum Auto. »Warum zum Teufel hast du ihn so provoziert, Barbara?«, fragte Sven.
»Du hast ihn doch mit Samthandschuhen angepackt, oder?«
»Ich war höflich.«
»Er wäre jemand, der genug Geld hätte, einen Killer zu engagieren.«
»Aber er hat kein Motiv.«
»Nun, eben hat er doch eines genannt«, mischte sich Jakubian ein. »Er nannte Olga und ihre Tochter ‚Familie‘«.
»Ohne Beweise lege ich mich mit ihm nicht noch einmal an.«
»Daher weht der Wind also«, meinte Barbara. Sie verkniff sich hinzuzufügen, dass Sven früher solche Skrupel nicht gehabt hatte.
Schweigend setzten sie sich ins Auto, Sven nahm auf dem Rücksitz Platz. Jakubian fädelte sich in einen Kreisel mit etwas verwirrender Verkehrsführung ein.
»Halt, das ist falsch!«, rief Sven, »wir wollen doch nicht nach Homberg!«
Jakubian bog vor der Rheinbrücke links ab, sodass sie wenigstens nicht in die linksrheinischen Stadtteile gerieten. Sie kurvten eine Weile durch Ruhrorts kleines Zentrum, was sich als sehr trickreich erwies, wenn es darum ging, Fremden mit Einbahnstraßen die Orientierung zu rauben. Plötzlich hielt Jakubian an und deutete auf ein altes Haus mit wunderbarer Jugendstilfassade. »Dort habe ich als Kind gewohnt. Unten meine Großeltern, darüber meine Eltern und ich.« Sein Gesicht war für einen Moment ganz verklärt.
»Sollen wir vielleicht aussteigen und klingeln?« Sven verdarb ihm diesen Moment gründlich. Jakubian fuhr wieder los und fand die richtige Straße zurück zur Innenstadt.
»Ich zähle Dewus durchaus zum Kreis der Verdächtigen«, sagte Sven plötzlich in die ungemütliche Stille. »Aber ich werde trotzdem morgen nach Dortmund
Weitere Kostenlose Bücher