Blutleer
Jakubian wartet auf mich.«
Kurz bevor sie in Jakubians BMW stieg, sah Barbara Thomas immer noch verloren an seinem Auto stehen. Jakubian wartete, bis Barbara sich angeschnallt hatte. »War das eben dein Mann?«, fragte er, als sie losfuhren.
»Ja. Das war Thomas.«
»Und verrätst du mir auch, warum er hier war?«
Barbara seufzte. »Wir haben gestern Thomas’ Geliebte in der Landesklinik in Grafenberg abgeliefert.«
»Oh.« Er fuhr konzentriert weiter, dann meinte er plötzlich: »Das heißt dann wohl, dass du gewonnen hast, oder?«
»Bei dem Spiel gibt es nur Verlierer. Er war hier, um mir zu sagen, dass Katharina die Klinik verlassen hat und untergetaucht ist.«
Er fragte nicht weiter, was Barbara sehr zu schätzen wusste.
Die Yildirims besaßen ein Mehrfamilienhaus, das die Großfamilie jedoch allein bewohnte. Fast auf jedem Klingelknopf stand
Yildirim
. Jakubian war bereits hier gewesen und wusste, wo er klingeln musste.
Doch ganz allein, wie er gehofft hatte, war Frau Yildirim nicht. Ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, öffnete ihnen. »Ich bin Bülent Yildirim«, stellte er sich in akzentfreiem Deutsch vor. »Meine Mutter hat mich gebeten, heute nicht zur Uni zu gehen, um bei dem Gespräch zu dolmetschen.«
»Ich hoffe, niemand bekommt Ärger …«, sagte Jakubian, doch der junge Mann lachte. »Wir sind zwar eine relativ traditionelle Familie, aber wenn meine Mutter mit Ihnen reden will, ist das ihre Entscheidung. Kommen Sie doch bitte.«
Er führte sie ins Wohnzimmer, das fast ganz in Blau gehalten war. Es unterschied sich nur wenig von deutschen, gutbürgerlichen Wohnzimmern, eine Schrankwand, schwere Polstermöbel von guter Qualität, ein großer Fernseher. Allenfalls die vielen wertvollen Teppiche und ein paar Bilder und üppige Blumengestecke gaben ihm einen leicht orientalischen Anstrich. Und natürlich die Tatsache, dass hier leicht Platz für zwanzig Personen war.
Frau Yildirim war Anfang fünfzig, eine kleine, zarte, aber recht zäh wirkende Frau. Sie trug ein klassisches dunkles Sommerkleid mit dreiviertellangen Ärmeln und ein farblich darauf abgestimmtes Kopftuch. Barbara wusste, sie war sechsfache Mutter und vierfache Großmutter. Fatma, ihr jüngstes Kind war ein Nachzügler gewesen.
»Deutsch nicht so gut, deshalb Bülent«, sagte sie, nachdem sie Barbara und Jakubian die Hand geschüttelt hatte. Bülent kam inzwischen mit Kaffee herein.
Barbara erklärte zunächst, dass sie zurzeit noch einmal die Gewohnheiten der Opfer nachvollzogen und auch, dass sie selbst mehr über die Opfer erfahren wolle. Bülent übersetzte, und Frau Yildirim nickte. Sie schilderte Fatmas Alltag: Schule, Sport, Klavierunterricht.
»Sie hat gut gelernt«, sagte sie. »Ich wollte, das sie gut lernt. Sie war meine einzige Tochter. Sie sollte frei leben und entscheiden können. Kein Kopftuch tragen müssen, wenn sie sich nicht dafür entschied.«
Barbara spürte, wie viel Hoffnungen für Fatiye Yildirim mit dem Tod ihrer Tochter zerbrochen waren. Sie erzählte lange und ausführlich, weinte manchmal, aber wollte nicht unterbrechen. Es war, als hielte das Erzählen über sie ihre Tochter ein wenig lebendig. Auch der Bruder schien ähnlich zu empfinden.
»Am Tag ihres Todes, wo war sie da?«, fragte Jakubian.
Fatiye streckte die Arme nach vorn und bewegte die Finger. »Eine deutsche Schulfreundin hatte ein Klavier, und die Mädchen spielten manchmal damit herum. Die Mutter des Mädchens war Klavierlehrerin, sie kam zu uns, um uns davon zu überzeugen, dass sie talentiert sei. Daraufhin bezahlten wir ihr Klavierunterricht, dreimal die Woche. Und sie fuhr alleine hin, mit der S-Bahn, nachmittags um fünf. Im Winter, im Dunkeln, hätte ich darauf bestanden, dass einer ihrer Brüder oder sonst jemand aus der Familie sie fährt, aber sie war ein sehr selbstständiges Mädchen und ja immer spätestens um halb acht zu Hause. Und der S-Bahnhof ist doch gleich da drüben.« Sie wies aus dem Fenster.
»Dreimal in der Woche ist ziemlich oft.«
»Sie musste üben, und wir hatten kein Klavier«, sagte Bülent und bemerkte, dass Barbaras Blick an dem weißen Instrument an der gegenüberliegenden Wand hängen blieb.
»Drei Tage als Fatma tot, Klavier ist gekommen.« Fatiye Yildirim begann zu weinen, Bülent nahm sie in den Arm und versuchte, sie auf Türkisch zu trösten. »Ich glaube, es ist doch besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte er.
Jakubian und Barbara erhoben sich.
»Sie suchen Mörder«, sagte Fatiye
Weitere Kostenlose Bücher