Blutlied -1-
eines geführt hatte, erinnerte sich daran, dass Albert einmal darüber gesprochen hatte. Das Große Buch alleine war zwar mächtig genug, um Regus seine Position zu sichern, aber je öfter er die Seiten analysierte, desto mehr hatte er das Gefühl, einem Betrug auf den Leim gegangen zu sein. Die Seiten waren perfekt gestaltet, der Text klang wichtig und mystisch, aber die Seiten hatten keine Ausstrahlung. So schön die Schrift auch war, so elegant die Zeichnungen angelegt waren – irgendwie erschien ihm das Buch wie eine ... wie eine billige Kopie dessen, was Albert in sein Tagebuch geschrieben haben musste. In den meisten Tagebüchern findet sich die Wahrheit. Warum also sollte dies bei Alberts Tagebuch anders sein?
Er hatte – und war einmal dabei von Caroline Bailey überrascht worden – das alte Haus Stück für Stück abgesucht, jedoch das Buch nicht gefunden. Nun gut – er würde nicht aufgeben. Würde es irgendwann finden. Noch folgte man ihm, auch wenn viele seiner Leute ungeduldig wurden. Es wurde Zeit, dass Frederic Densmore die letzte Barriere zum Menschsein überschritt. Regus war enorm gespannt, was dann geschehen würde! Wenn er seinen Leuten den Auserwählten präsentierte! Denn – und daran konnten alle Zweifel nichts ändern – auf einer tiefen Ebene glaubte er ebenso wie seine Artgenossen an die Worte des Albert Bailey.
Der Traum!
Fetzen davon hingen noch im kühlen Zimmer. Regus versuchte, sie zu fassen. Bilder von Frederic und seinem Butler Ludwig. Dabei eine Frau. Eine entsetzlich dicke Frau, schwarzhäutig! Und noch eine Energie, noch ein Gefühl, eine Aura, die ihn fast körperlich erinnerte.
Caroline, Frederics verstorbene Frau!
Das konnte nicht sein! Diese Frau war tot! Er selbst hatte sie getötet!
Der Vampir zischte wie eine Schlange, der man das Gift aus dem Zahn pumpt. Er krümmte sich.
Friedhof! Sie waren auf dem Weg zu einem Friedhof!
Dort würde ein Ritual abgehalten werden. Dort würde etwas geschehen, dass Regus’ ganze Aufmerksamkeit forderte. Dort würde ... würde ...
Der Vampir sprang in seine Kleider.
Vor weniger als zwei Jahren hatte er Frederic versprochen, eines Tages sei es Zeit für das Ritual der Öffnung.
»Ich bin dein Herr. Nenne mich Regus und warte auf meine Anweisungen!« hatte der Düstere gesagt.
Frederic war hoch geschreckt, hatte geschrien: »Warum hast du mir das angetan?«
»Weil es sein musste, Frederic! Umso mehr Menschlichkeit noch in dir ist, desto stärker wird später der Genuss der Stärke deine Eitelkeit befriedigen. Irgendwann wirst du Ihnen überlegen sein, ein Gott.«
»Und wenn es niemals so wird?«
»Es wird, Frederic, es wird! Manch einer benötigt eine besonders lange Lehrzeit, andere lernen schneller. Du wirst Alles sein.«
Er schauderte es bei der Erinnerung an diese Worte.
Du wirst Alles sein!
Hatte er zu lange gewartet? Frederic war ein Bruder! Und er würde die Welt der Untoten verändern. Denn das hatte der Großmeister versprochen. Nun war Regus Großmeister, aber er hatte keine Worte. Nichts Neues, das er verkünden konnte. Das Große Buch gab nichts mehr her. Würde er die Worte heute Nacht finden? War der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen?
Und was hatte Caroline Densmore damit zu tun?
Welche Ziele verfolgte die Voodoo-Priesterin?
Der Vampir schrumpfte. Die Luft stank nach Aas. Mir reißenden Geräuschen veränderte er seine Gestalt. Als Rabe, mehr als zwei Fuß hoch, hockte er auf der Fensterbank. Er breitete die Flügel aus und machte sich auf den Weg. Seine Schwingen verdunkelten den Mond.
Der Friedhof lag unter einer drei Fuß hohen Nebelschicht. Diese waberte über knorrige Äste und umspülte Grabsteine und Mahnmale. Die grantigen Weiden bogen sich kahl und schwarz über die Gräber wie die Silhouetten eines Scherenschneiders. Ein Uhu schimpfte über die drei Eindringlinge im Totenreich.
»Bubo bubo ... schweig!«, zischte Madame deSoussa und der Vogel hielt den Schnabel.
»Zuerst müssen wir Carolines Geist etwas schenken, damit sie gnädig gestimmt ist«, sagte Madame deSoussa und zog aus ihrem Schulterbeutel eine Kalebasse. Diese stellte sie an den Fuß eines Baumes. »Ein paar Erklärungen, meine Herren, dann lassen Sie mich meine Arbeit tun, ist das in Ordnung?«
»Ja, selbstverständlich«, antwortete Frederic.
»Das Universum ähnelt einer Kalebasse, meine Herren. Himmel und Erde bilden seine Hälften. In diesem geschlossenen System gibt es kein Oben und Unten, keine Trennung von
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