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Blutlied -1-

Blutlied -1-

Titel: Blutlied -1- Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vanessa Farmer
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Leben und Tod, Menschlichem und Nichtmenschlichem. Sehen Sie diesen mächtigen Baum?« Sie wies auf eine knorrige Eiche. »Die Wirklichkeit ist nur eine Fassade. In diesem Baum hausen mächtige Geister. Denken Sie daran, wenn Sie demnächst durch einen Wald streifen. Alles, was Ihnen, Frederic, zustieß, ist göttliche Vorsehung oder magische Vergeltung. Geschenk oder Strafe. Das werden wir sehen, wenn ich das Opfer dargebracht habe.«
    »Opfer?«, fragte Ludwig.
    »Nichts Spektakuläres«, kicherte Madame deSoussa und zog ein totes Huhn aus dem Beutel. Sie hielt es am Hals hoch, sodass es aussah, als baumele eine Gehenkter vor dem weißen Licht des Mondes.
    Es wird geschehen, wenn der Mond das nächste Mal mit voller Helle strahlt. Dann werden Sie als erstes das Blut ihres treuen Ludwig trinken!
    Frederic zuckte zusammen, als er sich an diesen Satz erinnerte. Soviel er wusste, waren es noch zwei Tage bis zum nächsten Vollmond. Oder irrte er sich? Das Gestirn wirkte verdächtig rund und hell.
    Madame deSoussa zog ein schmales Messer aus ihrer Schärpe. Ohne lange nachzudenken, ritzte sie sich in den Unterarm und fing das Blut in der Kalebasse. Es tropfte eine Weile, bis sie es mit einem Druck ihres Daumens zum versiegen brachte.
    Frederic starrte auf das Gefäß. Starrte auf Mambos Unterarm. In seinen Ohren rauschte es. Hinter seinen Augen pumpte es hellgelb und blutrot im Wechsel. Knirschend schoben sich seine Zähne aus dem Oberkiefer. Hinter seiner Stirn pulsten Lust, Erhabenheit, Kraft und Durst. Er witterte. Das hier roch anders als Kaninchenblut, als Ochsenblut, als Schweineblut. Das hier war metallener, bleierner, schwerer, eher wie ein alter dunkler Wein. Das hier war wie König Lears Trauer, wie das Lied der Hexen und der Tod des König Duncan. Das hier war Macbeths Vision des schwebenden Dolches, direkt gerichtet auf alles Menschliche, auf Adern, Venen, Leben, Blut!
    Madame deSoussa blickte auf. Flackerte Angst in ihren Augen? Sie schwitzte erbärmlich. Ihre Hände zitterten, als sie Frederic die Kalebasse reichte. »Es ist mein Blut. Ich schenke es dir. Sei mir wohl gesonnen, Vampir und zeige, welche Macht in dir steckt. Sammle diese Kraft für alles, was dich erwartet. Konzentriere deine Fähigkeit, deine Liebe, dein Sehnen, auf das, was du begehrst. Ist es Caroline? Dann begehre sie. Trinke und begehre sie.«
    Frederic nahm die Kalebasse. In schauderte, als der erste süßwarme Tropfen seine Lippen netzte, als das wohligwarme Elixier über seine Zunge rann. Ihm war, als berste er vor Überschwang. Nichts mehr nahm er wahr, außer seinen Träumen. Ludwig, die Mambo, der Friedhof – alles das existierte nicht mehr. Nur dieser Trank, die Kraft, die ihn durchfloss, das, was in ihm erweckt wurde, jenes, was Regus ihm einst prophezeit hatte, war noch wichtig.
    Und Caroline!
    Sah er sie?
    Hörte er sie?
    War sie ihm nicht näher denn je?
    Sah er ihren Schatten dort neben dem Baum?
    Dort, wo die Voodoo-Priesterin das getötete Huhn abgelegt hatte, seltsam anmutende Sprüche murmelte und die Geister im Baum rief, in einer Sprache, die Frederic nicht verstand. Sie, der er die Zähne in den Hals bohren will, deren Blut er trinken will. Denn nur so wenig war es, dass sie ihm schenkte. Viel zu wenig. Jedoch er muss sich zusammenreißen. Er darf sich nicht gehen lassen. Er muss warten.
    Oh, Caroline! Wenn dies alles dazu dient, mir einen Weg zu dir zu bahnen, mag die Qual noch so groß sein. Du bist alles, was ich will.
    Und ein Blitzschlag fuhr durch ihn. Ein brennender Schmerz, der ihn auf die Knie riss.
     

Blutlied
     
     
    Caroline weinte.
    Sie wirbelte über dem Nebel, im Reigen mit unzähligen Erinnerungen. Auf den Grabsteinen hockten sie, über Grabhügeln schwebten sie. Im Geäst der Bäume kauerten sie. Männer, Frauen und viele, viele Kinder. So viele, die noch nicht den Weg ins Totenreich gefunden hatten, denen man bisher den Zutritt verwehrte. Warum geschah das? Was hielt diese Wesenlosigkeiten zurück? War es Gott? War es die Letzte Rechtsprechung? Oder waren sie alle zu früh gestorben, vor ihrer regulären Zeit?
    Kinder, die in den Strassen Londons verhungert waren. Bettler, im Schlaf erstochen. Geschäftsleute, von eigener Hand gerichtet. Und sie, Caroline Asbury-Bailey getötet von einem Vampir namens Regus.
    Hatte der Vampir sie gerichtet, weil sie es verdiente?
    Wie starb Mr Terence Bailey?, hatte er gefragt. Dabei hatte er sie angeschaut wie ein Lordoberrichter. Er hatte in ihre Seele gestarrt.

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