Blutlust
mich nieder.
»Schneller, Doktor Emmerson!«, befahl der Mann mit dem Licht auf der Stirn.
Gott?
»Ist schon drin«, reagierte eine weibliche Stimme von irgendwo hinter meinem Kopf. Panik schwang in ihr mit; aber die war nichts im Vergleich zu meiner.
»Sie reagiert nicht!«
»Verdoppeln!«
Dann fühlte ich den Schmerz – überall. In meinen Knochen, meinen Eingeweiden, meinem Kopf. Mörderischer Schmerz. Weitere Stimmen:
»Himmel, wenn sie jetzt wach wird, killt der Schock sie!«
»Schauen Sie sich die Löcher im Hals an.«
»Die sind unser kleinstes Problem.«
»Dass sie noch lebt, ist ohnehin ein Wunder.«
»Nicht so groß wie das, dass sie mitten in der Narkose wach wird.«
»Ihre Werte! Schauen Sie sich ihre Werte an!«
»Scheiß auf die Werte!«, brüllte der Mann über mir all die anderen Stimmen nieder. »Legt sie schlafen, oder sie verreckt uns unterm Messer!«
Diese Schmerzen!
»Mit der ursprünglichen hat sie jetzt schon die dreifache Dosis«, sagte die Frau.
»Erhöhen!«
»Wenn ich noch einmal erhöhe, stirbt sie wahrscheinlich.«
»Wenn Sie es nicht tun, stirbt sie bestimmt !«
Ich wollte mich noch einmal aufbäumen – aber all meine Kraft hatte mich verlassen. Ich seufzte … und dann wurde alles wieder schwarz.
Ich war in einem Wald.
Uralte Bäume ragten hinauf zu den Sternen. Die Stämme so dick, dass es eine Kette von sechs Männern brauchen würde, um sie mit weit auseinandergestreckten Armen zu umfangen. Sie waren mit Lianen bewachsen und Efeu. Rindenpilze leuchteten im Dunkel. Insekten so groß wie Hunde surrten durch die Luft.
In der smaragdenen Schwärze des Dschungels das Fauchen von Raubkatzen und das Schreien fremdartiger Vögel.
Trommeln schlugen.
In der Mitte des Waldes eine Lichtung.
Eine Pyramide aus Lehmziegeln. Älter noch als die Bäume. Über und über bewachsen mit Moos und Farnen und Orchideen. Eine steile Treppe vom Boden der Lichtung bis hinauf zur Spitze … gesäumt mit ehernen Schalen, in denen Öl brannte.
Auf der Spitze der Pyramide ein Baum; gewaltiger noch als die anderen. Drum herum eine Plattform.
Hier saß ich … auf einem Thron. Der Baum hinter mir. Vor mir eine Schar Gestalten.
Männer … Frauen … hochgewachsen … stark.
In der Nacht glühende Augen … Reißzähne.
Sie brachten mir Opfergaben und knieten demütig vor mir nieder.
Sehnsucht in ihren Blicken.
Gier?
Gier!
Als ich wach wurde, ging gerade die Sonne auf. Vor meinen Augen war noch alles verschwommen, und ich sah eine Gestalt, die am Fuß meines Krankenbettes stand. Eine vertraute Gestalt.
Max?
Ich rieb mir die Augen und blinzelte. Niemand mehr da.
Eine Infusionsnadel in meiner Hand. Trockener Mund. Schrecklicher Durst. Ich drehte mich zur Seite, um zu sehen, ob irgendwo etwas zu trinken stand. Die Schmerzen waren verschwunden.
Neben meinem Kopf lag eine frisch geschnittene schwarze Rose auf dem Kissen … und eine Karte.
› Heute Nacht im Washington Square Park. Max. ‹
Ich nahm Rose und Karte und warf sie in den Mülleimer neben meinem Bett. Dann trank ich einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche auf dem Nachttisch, griff zum Telefon und wählte die Nummer meiner Mutter.
Es klingelte nur zwei Mal, ehe sie abnahm.
»Hey Mom«, sagte ich.
»Hi Kleines!« Sie klang erleichtert.
»Sorry, dass ich mich jetzt erst melde.«
»Schon okay.«
»Es ist einfach so viel passiert seit meiner Ankunft hier.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Geht es dir gut?«
Ich zögerte. Auf gar keinen Fall wollte ich sie beunruhigen. Schon gar nicht so sehr, dass sie vielleicht hierherkommen würde.
»Ich komme wieder nach Hause«, sagte ich schließlich.
»Ein bisschen weit für ein Wochenende.«
»Ich meine, ganz.«
»Du willst das Studium abbrechen, ehe du überhaupt richtig damit angefangen hast?« Keine Spur von Vorwurf. Nur Interesse.
Ich liebe sie .
»Auf jeden Fall will ich weg aus New York. Ich kann auch woanders Medizin studieren.«
»Die Studiengebühren?«
»Ich werde eins, zwei Jahre jobben gehen müssen.«
»Wenn es dir das wert ist, Kleines.«
»Ist es, Mom.«
»Ich koch dir was Feines.«
»Ich freu mich. Bis bald, Mom.«
»Bis bald, Kleines.«
Wir legten auf.
»Du kannst nicht gehen.« Eine weibliche Stimme aus dem Schatten. Ich erschrak. Ich hatte niemanden hereinkommen sehen. Carla?
Aber es war nicht Carla. Es war Sandra. Die irre Blondine in dem zerschlissenen Kleid.
Sie trat ins Licht und schaute mich mit traurigen Augen
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