Blutmale
Ich habe die Todesanzeige im Zeitungsarchiv gefunden. Wir haben also nur das, was in den Akten steht. Aber stellen Sie sich doch einmal die Situation vor. Sie sind ein einfacher Provinzpolizist und haben es mit einem sechzehnjährigen Mädchen zu tun, das innerhalb kurzer Zeit den Bruder, die Mutter und jetzt auch noch den Vater verloren hat. Sie steht wahrscheinlich unter Schock. Vielleicht ist sie hysterisch. Werden Sie sie da lange mit Fragen belästigen, um herauszubekommen, wo sie war, als ihr Vater starb, zumal, wenn es so eindeutig nach Selbstmord aussieht?«
»Es ist mein Job, Fragen zu stellen«, sagte Jane. »Ich hätte es gemacht.«
Ja, das hättest du , dachte Maura, während sie Janes unbeugsame Miene betrachtete und sich an ihre unbarmherzige Befragung von gestern Morgen erinnerte. Keine Gnade, keine Rücksicht. Wenn Jane Rizzoli davon überzeugt ist, dass du dir etwas hast zuschulden kommen lassen - dann gnade dir Gott. Maura blickte auf das Foto von Peter Saul hinab. »Es gibt kein Bild von Lily. Von ihr wissen wir auch nicht, wie sie aussieht.«
»Doch, es gibt ein Foto«, sagte Sansone. »Und zwar eines, das Sie sehr interessieren wird.« Er blätterte zur nächsten Kopie um und deutete auf den Artikel.
ARZT UNTER GROSSER ANTEILNAHME DER BEVÖLKERUNG BEIGESETZT
Freunde, Kollegen und sogar Fremde kamen an diesem herrlichen Augustnachmittag aus nah und fern auf dem Ash land Cemetery zusammen, um Abschied von Dr. Peter Saul zu nehmen. Er war letzten Samstag an einer Schussverlet zung verstorben, die er sich selbst beigebracht hatte. Es war die dritte Tragödie, von der die Familie Saul binnen zwei Wo chen heimgesucht wurde.
»Da ist sie«, sagte Sansone und zeigte auf das Foto zum Artikel. »Das ist Lily Saul.«
Das Bild war nicht sehr scharf, und das Gesicht des Mädchens war von den Trauergästen links und rechts von ihr teilweise verdeckt. Maura konnte nur das Profil ihres gesenkten Kopfes sehen, halb verhüllt durch ihr langes, dunkles Haar.
»Da ist ja nicht viel zu erkennen«, bemerkte Jane.
»Es ist nicht das Foto, das ich Ihnen zeigen wollte«, erwiderte Sansone. »Sondern die Bildunterschrift. Sehen Sie sich einmal die Namen der Mädchen an, die neben Lily stehen.«
Erst jetzt begriff Maura, warum Sansone so darauf bestanden hatte, ihnen diese Kopien zu zeigen. Unter dem Foto der gramgebeugten Lily Saul sprangen ihr zwei wohlbekannte Namen ins Auge.
Lily Saul wird von ihren Freundinnen Lori-Ann Tucker und Sarah Parmley getröstet.
»Das ist die entscheidende Verbindung«, sagte Sansone. »Drei Freundinnen. Zwei von ihnen sind inzwischen tot. Nur Lily Saul ist noch am Leben.« Er machte eine Pause. »Und wir können nicht einmal sicher sein, ob es so ist.«
Jane schnappte sich das Blatt und starrte es an. »Vielleicht, weil sie nicht will, dass wir etwas über sie erfahren.«
»Sie ist es, die wir finden müssen«, sagte Sansone. »Sie dürfte die Antworten kennen.«
»Oder vielleicht ist sie die Antwort. Wir wissen so gut wie nichts über diese Lily. Ob sie sich mit ihrer Familie verstanden hat. Ob sie sich vielleicht mit einem fetten Erbe aus dem Staub gemacht hat.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Maura.
»Ich muss zugeben, Mr. Sansone hat es schon vor mir auf den Punkt gebracht. Das Böse hat kein Geschlecht.«
»Aber ihre eigene Familie auszulöschen, Jane?«
»Wir töten, was wir lieben. Das weißt du.« Jane betrachtete das Foto der drei Mädchen. »Und vielleicht haben diese beiden es auch gewusst. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit, wenn man ein Geheimnis hütet.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich muss mich in der Stadt umhören und versuchen, mehr über Lily in Erfahrung zu bringen. Irgendjemand muss doch wissen, wo sie zu finden ist.«
»Wenn Sie schon dabei sind«, bemerkte Sansone, »möchten Sie die Leute vielleicht auch danach fragen.« Er schob Jane eine weitere Kopie zu. Die Überschrift lautete: Land jugend kürt strammen Burschen aus South Plymouth zum Sieger.
»Äh … ich soll die Leute über Preisbullen befragen?«, meinte Jane verwirrt.
»Nein, es ist die Meldung in der Rubrik Aus dem Polizei bericht «, erwiderte Sansone. »Ich hätte sie selbst fast übersehen, wenn sie nicht zufällig auf derselben Seite gestanden hätte wie der Artikel über Teddy Sauls Tod durch Ertrinken.«
»Sie meinen das hier? Stall verwüstet, Ziege vermisst ?«
»Sehen Sie sich die Meldung an.«
Jane las laut vor: »›Bei der örtlichen Polizei
Weitere Kostenlose Bücher