Blutmale
raunte Maura zu: »Sieh mal, wer da kommt.«
»Wer?«
»Unser gemeinsamer Freund.«
Maura drehte sich zur Tür um und blickte am Tresen vorbei, an dem Männer mit Schirmmützen über ihre Burger und ihren Kaffee gebeugt saßen. Sie entdeckte Sansone im gleichen Moment wie er sie. Während er das Lokal durchschritt, drehten sich ein Dutzend Köpfe zu ihm um, und alle Blicke folgten der auffallenden Erscheinung mit den silbernen Haaren. Sansone trat auf Maura zu.
»Es freut mich zu sehen, dass Sie noch in der Stadt sind«, sagte er. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Wir wollten gerade gehen«, sagte Jane und griff demonstrativ nach ihrer Brieftasche. Den Kaffee hatte sie praktischerweise schon wieder vergessen.
»Es wird nicht lange dauern. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich es Ihnen maile, Detective?«
Maura betrachtete den Stapel Papiere in seiner Hand. »Was haben Sie denn da?«
»Das ist alles aus dem Archiv der Evening Sun .« Er legte die Papiere vor sie auf den Tisch.
Sie rückte ein Stück zur Seite, und er nahm neben ihr auf der Bank Platz. Sofort fühlte sie sich von diesem Mann in die Enge getrieben. Mit seiner dominanten Persönlichkeit schien er den ganzen Platz für sich zu beanspruchen und ihr die Luft zum Atmen zu nehmen.
»Das elektronische Archiv reicht nur fünf Jahre zurück«, sagte er. »Das sind Kopien aus dem Papierarchiv. Die Qualität lässt zu wünschen übrig, aber alles Wesentliche lässt sich daraus entnehmen.«
Maura sah sich die erste Seite an. Es war eine Kopie der Titelseite der Evening Sun vom 11. August vor zwölf Jahren. Sofort fiel ihr Blick auf einen Artikel, der ziemlich weit oben auf der Seite stand.
KNABENLEICHE AUS DEM PAYSON POND GEBORGEN
Das dazugehörige Foto zeigte einen Jungen mit lausbübischem Grinsen, der eine getigerte Katze im Arm hielt. Die Bildunterschrift lautete: Teddy Saul hatte gerade erst seinen elften Geburtstag gefeiert.
»Nach allem, was man weiß, war seine Schwester Lily die Letzte, die ihn lebend sah«, sagte Sansone. »Sie war es auch, die ihn tags darauf im See treiben sah. Was alle stutzig machte, war laut diesem Artikel die Tatsache, dass der Junge ein sehr guter Schwimmer gewesen war. Und dann war da noch ein in teressantes Detail.«
Maura blickte auf. »Welches?«
»Angeblich war er zum See hinuntergegangen, um zu angeln. Aber seine Rute und der Angelkasten wurden rund zwanzig Meter vom Ufer entfernt gefunden.«
Maura gab die Kopie an Jane weiter und nahm sich den nächsten Artikel vor, erschienen am 18. August. Eine Woche nachdem die Leiche des kleinen Teddy gefunden worden war, hatte der nächste Schicksalsschlag die Familie Saul getroffen.
TRAUERNDE MUTTER STARB WAHRSCHEINLICH DURCH UNFALL
Der Artikel war von einem weiteren Foto begleitet, einer weiteren erschütternden Bildunterschrift. Das Bild zeigte Amy Saul in glücklicheren Tagen. Sie strahlte in die Kamera und hielt ein Baby auf dem Schoß - ihren Sohn Teddy, den sie elf Jahre später im Wasser des Payson Pond verlieren sollte.
»Sie wurde am Fuß der Treppe gefunden«, sagte Maura und sah zu Jane auf. »Von ihrer Tochter Lily.«
»Schon wieder? Die Tochter hat sie beide gefunden?« Jane griff nach dem fotokopierten Artikel. »So viel Pech - das ist doch allmählich verdächtig.«
»Und vergiss nicht den Anruf in Sarah Parmleys Motelzimmer vor zwei Wochen. Das war eine Frauenstimme.«
»Bevor Sie hier voreilige Schlüsse ziehen«, sagte Sansone, »sollten Sie wissen, dass es nicht Lily Saul war, die die Lei che ihres Vaters fand. Das war ihr Cousin. Es ist das erste und einzige Mal, dass Dominic Sauls Name in diesen Artikeln auftaucht.«
Maura nahm sich die dritte Kopie vor und starrte in das lächelnde Gesicht von Dr. Peter Saul. Darunter stand zu lesen: Der Tod von Frau und Sohn raubte ihm den Lebensmut. Sie blickte auf. »Gibt es irgendein Foto von Dominic?«
»Nein. Aber er wird in diesem Artikel als derjenige genannt, der die Leiche seines Onkels fand. Er war es auch, der die Polizei anrief.«
»Und das Mädchen?«, fragte Jane. »Wo war Lily, als das passierte?«
»Das steht da nicht.«
»Ich nehme an, die Polizei hat ihr Alibi überprüft.«
»Davon können Sie sicher ausgehen.«
»Sicher ist für mich gar nichts.«
»Hoffen wir, dass sich diese Information in den Polizeiakten findet«, erwiderte Sansone. »Denn von dem zuständigen Ermittler werden Sie nichts erfahren.«
»Warum nicht?«
»Er ist letztes Jahr an einem Herzinfarkt gestorben.
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