Blutmale
keine Arbeitserlaubnis.«
»Aber inzwischen habe ich noch ein bisschen darüber nachgedacht«, meinte Giorgio. »Und ich glaube, der Mann hat viel leicht bloß ein Auge auf dich geworfen. Und deswegen hat er nach dir gefragt.« Giorgio zwinkerte ihr zu.
Sie schluckte. »Hat er gesagt, wie er heißt?«
Giorgio boxte seinen Sohn spielerisch gegen den Arm. »Siehst du«, schalt er ihn, »du bist einfach zu langsam, Jun ge. Jetzt wird ein anderer kommen und sie uns wegschnappen.«
»Wie hieß der Mann?«, fragte Lily wieder, diesmal in schärferem Ton. Doch weder Vater noch Sohn schienen die Veränderung in ihrem Verhalten zu bemerken. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, einander zu necken.
»Er hat seinen Namen nicht gesagt«, antwortete Giorgio. »Ich glaube, er will lieber inkognito bleiben, eh ? Will dich ein bisschen auf die Folter spannen.«
»War es ein junger Mann? Wie sah er aus?«
»Oh. Du bist also interessiert.«
»War irgendetwas an ihm« - sie zögerte - »ungewöhnlich?«
»Wie meinst du das - ›ungewöhnlich‹?«
Nicht menschlich , hatte sie eigentlich sagen wollen.
»Er hatte sehr blaue Augen«, antwortete Paolo munter. »Selt same Augen. Leuchtend, wie die eines Engels.«
Das genaue Gegenteil eines Engels.
Sie wandte sich ab und ging rasch zum Fenster, um durch die staubige Scheibe auf die Straße hinauszuspähen, wo die Passanten vorübergingen. Er ist hier , dachte sie. Er hat mich in Siena aufgespürt.
»Er wird schon wiederkommen, cara mia . Hab nur Geduld«, sagte Giorgio.
Und wenn er es tut, darf ich nicht hier sein.
Sie riss ihren Rucksack an sich. »Entschuldigt bitte«, sagte sie. »Ich fühle mich nicht wohl.«
»Was hast du denn?«
»Ich glaube, ich hätte gestern Abend diesen Fisch nicht essen sollen. Er bekommt mir nicht. Ich muss nach Hause.«
»Paolo wird dich begleiten.«
»Nein! Nein.« Sie riss die Tür so heftig auf, dass das Glöckchen Sturm läutete. »Ich komme schon allein klar.« Sie flüchtete aus dem Laden und drehte sich nicht mal um, aus Angst, dass Paolo ihr nacheilen könnte, dass er darauf bestehen könnte, den Gentleman zu spielen und sie nach Hause zu begleiten. Sie konnte nicht zulassen, dass er sie aufhielt. Jetzt zählte jede Minute.
Auf Umwegen ging sie zurück zu ihrer Wohnung, mied die überlaufenen Piazze und die Hauptstraßen. Stattdessen nahm sie Abkürzungen durch winzige Gässchen, hastete schmale Treppen zwischen mittelalterlichen Mauern hinauf und näherte sich so im Bogen nach und nach dem Fontebranda-Viertel. Zum Packen würde sie gerade einmal fünf Minuten brauchen. Sie hatte gelernt, mobil zu sein, jederzeit bereit, das Quartier zu wechseln, und sie musste nichts weiter tun, als ihre Kleider und ihren Waschbeutel in den Koffer zu werfen und ihren Vorrat an Euroscheinen aus dem Versteck hinter der Kommode hervorzuholen. In den letzten drei Monaten hatte Giorgio sie unter der Hand in bar bezahlt, da er ganz genau wusste, dass sie keine Arbeitserlaubnis hatte. Inzwischen hatte sie sich einen ansehnlichen Notgroschen zusammengespart, um die Zeit bis zum nächsten Job zu überbrücken. Es würde reichen, bis sie sich in einer neuen Stadt etwas gesucht hätte. Sie sollte sich einfach das Geld und den Koffer schnappen und verschwinden. Auf dem schnellsten Weg zum Busbahnhof.
Nein. Nein, das war unklug - er würde sicher damit rechnen, dass sie dorthin ging. Ein Taxi wäre besser. Kostspielig, ja, aber wenn sie es nur benutzte, um aus der Stadt hinauszukommen, vielleicht bis San Gimignano, dann könnte sie von dort den Zug nach Florenz nehmen. Dort könnte sie leicht in den Menschenmassen untertauchen.
Sie nahm nicht den Eingang von der Piazzetta; stattdes sen näherte sie sich dem Haus über eine dunkle Seitengasse, schob sich vorbei an Mülltonnen und angeketteten Fahrrädern und stieg die Hintertreppe hinauf. Aus einer der anderen Wohnungen dröhnte Musik, drang durch die offene Tür ins Treppenhaus. Es war dieser mürrische Teenager von nebenan. Tito und sein verfluchtes Radio. Sie erhaschte einen Blick auf den Jungen, der wie ein Zombie auf dem Sofa herumhing. Sie ging an seiner Wohnung vorbei zu ihrer eigenen Tür. Als sie gerade ihre Schlüssel aus der Tasche zog, fiel ihr Blick auf das abgebrochene Streichholz, und sie erstarrte.
Es klemmte nicht mehr im Türspalt - es war auf den Boden gefallen.
Ihr Herz schlug wild, und sie wich von der Tür zurück. Als sie wieder an Titos Wohnung vorbeikam, blickte der Junge vom Sofa auf
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