Blutmale
Krankenhausabfall? Von einer Amputation beispielsweise?«
Frost antwortete: »Ich habe bei allen Kliniken im Großraum Boston nachgefragt. In den letzten zwei Wochen hat es zwei Handamputationen gegeben, eine im Massachusetts General und die andere im Pilgrim Hospital. Beide waren das Resultat von schweren Verletzungen. Zuerst ein Unfall mit einer Kettensäge, dann eine Hundeattacke. In beiden Fällen war die Hand so übel zugerichtet, dass sie nicht wieder angenäht werden konnte. Und im ersten Fall war der Betroffene ein Mann.«
»Diese Hand wurde nicht aus dem Krankenhausabfall gezogen«, sagte Jane. »Und sie war auch nicht zerfetzt. Sie wurde mit einer sehr scharfen, gezahnten Klinge abgeschnitten. Der Täter ist auch nicht mit sonderlich großem chirurgischem Geschick vorgegangen. Die Spitze des Speichenknochens wurde abgebrochen, und es wurde kein Versuch unternommen, den Blutverlust einzudämmen. Keine abgebundenen Gefäße, kein Sezieren der verschiedenen Hautschichten. Nur ein glatter Schnitt.«
»Wissen wir von irgendwelchen vermissten Personen, zu denen sie gehören könnte?«
»Nicht in Massachusetts«, antwortete Frost. »Wir weiten die Suche jetzt aus. Auf sämtliche weißen Frauen. Sie kann noch nicht sehr lange vermisst sein, denn die Hand sieht relativ frisch aus.«
»Sie könnte eingefroren gewesen sein«, bemerkte Marquette.
»Nein«, sagte Jane. »Unter dem Mikroskop sind keine geschädigten Zellen zu erkennen. Das hat uns Dr. Isles erklärt. Wenn man Gewebe einfriert, lässt die Ausdehnung des Wassers die Zellwände reißen, und das konnte sie nicht feststellen. Die Hand wurde möglicherweise gekühlt oder in Eiswasser aufbewahrt, wie es beim Transport von Spenderorganen gemacht wird. Aber eingefroren war sie nicht. Wir gehen also davon aus, dass die Besitzerin der Hand erst vor wenigen Ta
gen ermordet wurde.«
» Falls sie ermordet wurde«, sagte Zucker.
Alle starrten ihn an. Die schreckliche Vorstellung, die seine Worte heraufbeschworen, ließ sie alle in betroffenes Schweigen verfallen.
»Sie denken, sie könnte noch am Leben sein?«, fragte Frost schließlich.
»Eine Amputation ist an sich ja noch nicht lebensbedrohlich.«
»O Mann«, stöhnte Frost. »Ihr die Hand abschneiden, ohne sie zu töten …«
Zucker blätterte die restlichen Obduktionsfotos durch und verweilte bei jedem einzelnen mit der Konzentration eines Juweliers, der durch seine Lupe schaut. Schließlich legte er die Mappe weg. »Es kommen zwei Gründe in Frage, weshalb ein Täter eine Leiche zerstückeln würde. Der erste ist rein praktischer Natur. Er muss sie irgendwie loswerden. Das ist bei bewusst handelnden, zielgerichteten Tätern der Fall. Ein solcher Täter ist sich im Klaren darüber, dass er keine Spu ren hinterlassen darf, wenn er nicht will, dass sein Verbrechen entdeckt wird.«
»Der organisierte Tätertyp«, sagte Frost.
»Wenn die Teile der zerstückelten Leiche anschließend weg geworfen oder versteckt werden, können wir von einer geplanten Tat ausgehen. Von einem kognitiv geprägten Täter.«
»Diese Leichenteile waren alles andere als versteckt«, warf Jane ein. »Er hat sie im Haus liegen lassen, und zwar an Stellen, wo man sie unmöglich übersehen konnte.« Sie gab Zucker einen weiteren Satz Fotos. »Die stammen vom Tatort.«
Er schlug die Mappe auf und hielt inne, starrte das erste Bild an. »Das wird ja immer interessanter«, murmelte er.
Er sieht eine abgetrennte Hand auf einem Teller, und das ist das Erste, was ihm dazu einfällt?
»Wer hat den Tisch gedeckt?« Er blickte zu Jane auf. »Wer hat die Teller, das Besteck und die Weingläser dort plat
ziert?«
»Wir glauben, dass es der Täter war.«
»Wieso?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Ich meinte, wie kommen Sie darauf, dass er es war?«
»Weil unter einem der Teller ein Blutfleck war. Er hat ihn hinterlassen, als er den Teller anfasste.«
»Fingerabdrücke?«
»Leider Fehlanzeige. Er hat Handschuhe getragen.«
»Ein Hinweis auf eine geplante Tat. Auf Vorbedacht.« Zucker richtete den Blick wieder auf das Foto. »Der Tisch ist für vier Personen gedeckt. Hat das etwas zu bedeuten?«
»Da können wir auch nur raten. Es waren acht Teller im Schrank, also hätte er auch mehr hinstellen können. Aber er hat bewusst nur vier genommen.«
Lieutenant Marquette meldete sich zu Wort. »Was glauben Sie, womit wir es hier zu tun haben, Dr. Zucker?«
Der Psychologe antwortete nicht gleich. Er blätterte langsam die Fotos durch
Weitere Kostenlose Bücher