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Blutmale

Blutmale

Titel: Blutmale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sich gut genug abzuschotten, sei es mit Schichten von Kleidungsstücken oder mit emotionalen Abwehrmechanismen. Es galt, sich vor den Elementen zu schützen und Bindungen aus dem Weg zu gehen.
    Sich von Gefahren fernzuhalten.
    Sie nahm ihren Rucksack und trat hinaus auf den schummrigen Flur, wo sie sich wie immer die Zeit nahm, ein abgebrochenes Pappstreichholz zwischen Tür und Türpfosten zu klemmen, ehe sie ihr Zimmer abschloss. Nicht, dass das uralte Schloss geeignet gewesen wäre, Eindringlinge fernzuhalten. Wie das ganze Haus war es vermutlich Hunderte von Jahren alt.
    Entschlossen trat sie hinaus in die glühende Luft der Piazzetta. Dann blieb sie stehen und ließ den Blick über den verlassenen Platz schweifen. Noch hielten die meisten Einheimischen Siesta, doch in etwa einer Stunde würden sie ihren Verdauungsschlaf beendet haben und sich auf den Weg zu ihren Läden und Büros machen. Lily blieb noch ein wenig Zeit zur freien Verfügung, ehe Giorgio sie an ihrem Arbeitsplatz zurückerwartete. Sie könnte sie für einen Spaziergang nutzen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, könnte noch einmal ihre Lieblingsplätze aufsuchen, hier in ihrer Lieblingsstadt. Sie war erst drei Monate in Siena, und schon hatte sie das Gefühl, dass die Stadt ihr zu entgleiten begann. Bald würde sie sie verlassen müssen, wie bisher jeden Ort, den sie lieb gewonnen hatte.
    Ich bin jetzt schon zu lange hier.
    Sie überquerte die Piazzetta und ging die schmale Gasse hinauf, die zur Via di Fontebranda führte. Ihr Weg führte sie an dem alten Brunnenhaus der Stadt vorbei, an Gebäuden, die im Mittelalter Werkstätten von Handwerkern und spä ter Schlachthöfe beherbergt hatten. Die Fontebranda war ein Wahrzeichen von Siena, das schon Dante in seinen Versen gepriesen hatte, und ihr Wasser war immer noch klar, sah immer noch einladend aus wie vor Jahrhunderten. Einmal war sie bei Vollmond hier entlanggegangen. Dies war die Zeit, da der Sage nach die Werwölfe kamen, um im Wasser der Quelle zu baden, kurz bevor sie sich wieder in ihre Menschengestalt zurückverwandelten. In jener Nacht hatte sie keine Werwölfe zu Gesicht bekommen, nur betrunkene Touristen. Aber vielleicht war das ja ein und dasselbe.
    Die Sohlen ihrer festen Sandalen klatschten auf das glühend heiße Steinpflaster, als sie den Hügel erklomm, vor bei am Heiligtum und dem Haus der heiligen Katharina, der Schutz patronin von Siena, die über lange Zeit keine andere Nah rung als die heilige Kommunion zu sich genommen hatte. Die heilige Katharina hatte lebhafte Visionen der Hölle, des Fegefeuers und des Himmels gehabt, und sie hatte nach den göttlichen Qualen eines ruhmreichen Märtyrertods gegiert. Nach langem, unerfreulichem Siechtum war ihr schließlich nur ein enttäuschend gewöhnlicher Tod vergönnt gewesen. Während Lily sich den Hang hinaufquälte, dachte sie:
    Auch ich habe Visionen der Hölle gesehen. Aber ich habe keine Lust, als Märtyrerin zu enden. Ich will leben. Ich würde alles tun, um am Leben zu bleiben.
    Als sie endlich an der Basilica di San Domenico ankam, war ihr T-Shirt schweißnass. Schwer atmend stand sie auf dem höchsten Punkt des Hügels und blickte auf die Stadt hinunter, deren Ziegeldächer im Dunst des Sommertags verschwammen. Es war ein Anblick, der ihr einen Stich ins Herz gab, weil sie wusste, dass sie ihn schon bald hinter sich lassen musste. Sie hielt sich jetzt schon länger in Siena auf, als ratsam war, und nun spürte sie, wie das Böse ihr auf den Fersen war, konnte schon fast seinen üblen Gestank in der schwachen Brise wittern, die ihr entgegenwehte. Um sie herum wuselten Scharen von Touristen mit schwabbeligen weißen Schenkeln, doch sie stand da in stummer Isolation, ein Geist inmitten der Lebenden. Ich bin bereits tot , dachte sie. Meine Zeit ist schon abgelaufen.
    »Entschuldigen Sie, Miss? Sprechen Sie Englisch?«
    Erschrocken fuhr Lily herum und erblickte einen Mann und eine Frau in mittleren Jahren, die beide T-Shirts mit der Aufschrift »University of Pennsylvania« und weite Shorts trugen. Der Mann hielt eine kompliziert aussehende Kamera in der Hand.
    »Möchten Sie, dass ich ein Foto von Ihnen mache?«, fragte Lily.
    »Das wäre prima! Vielen Dank!«
    Lily nahm die Kamera. »Gibt's da irgendwas, worauf ich achten muss?«
    »Nein, drücken Sie einfach nur auf den Knopf.«
    Das Paar hakte sich unter und posierte vor der Kulisse von Siena, die sich wie ein mittelalterlicher Wandteppich hinter ihnen ausbreitete.

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