Blutmale
Ihr Andenken an einen mühsamen Anstieg an einem heißen Sommertag.
»Sie sind Amerikanerin, nicht wahr?«, meinte die Frau, als Lily ihnen die Kamera zurückgab. »Woher kommen Sie denn?« Es war nur eine freundliche Frage, wie sie zahllose Touris ten einander stellten; ein Versuch, hier im fernen Europa mit Landsleuten in Kontakt zu kommen. Aber Lily machte die Frage augenblicklich misstrauisch. Ihre Neugier ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit absolut arglos. Aber ich kenne diese Leute nicht. Ich kann mir nicht sicher sein.
»Aus Oregon«, log sie.
»Tatsächlich? Da wohnt unser Sohn! Welche Stadt?«
»Portland.«
»Also nein - ist die Welt nicht klein? Er wohnt in der Northwest Irving Street. Ist das bei Ihnen in der Nähe?«
»Nein.« Lily trat bereits den Rückzug an, suchte sich von diesen aufdringlichen Leuten loszueisen, die wahrscheinlich als Nächstes darauf bestehen würden, dass sie zusammen einen Kaffee trinken gingen, damit sie ihr noch mehr Fragen stellen könnten, ihr noch mehr Informationen entlocken, die sie nichts angingen. »Schönen Tag noch!«
»Sagen Sie, hätten Sie vielleicht Lust …«
»Tut mir leid, ich bin verabredet.« Sie winkte ihnen noch einmal zu und ließ sie stehen. Vor ihr ragten die Türen der Basilika auf, eine willkommene Zuflucht. Sie ging hinein, tauchte ein in die kühle Stille des Kirchenschiffs und seufzte erleichtert auf. Die Kirche war fast leer, nur wenige Touristen verloren sich in dem weiten Raum, und ihre Stimmen waren glücklicherweise gedämpft. Sie ging auf den gotischen Bo gen zu, wo das Sonnenlicht durch die Buntglasfenster fiel und Juwelen aus Licht auf den Boden malte, und passierte die Grabmale der sienesischen Adligen, die das Kirchenschiff säumten. Sie trat in eine der Seitenkapellen, blieb vor dem ver goldeten Marmoraltar stehen und starrte auf den Schrein mit dem konservierten Haupt der heiligen Katharina von Siena. Ihre sterblichen Überreste waren zerstückelt und als Reliquien verteilt worden, der Körper in Rom, ein Fuß in Venedig. Hatte sie gewusst, dass dies ihr Schicksal sein würde? Dass ihr Kopf von ihrem verwesenden Rumpf abgerissen, ihr mumifiziertes Gesicht hier zur Schau gestellt würde, um von zahllosen verschwitzten Touristen und plappernden Schulkindern angegafft zu werden?
Die ledrigen Augenhöhlen der Heiligen blickten sie durch die Glasscheibe an. So sieht der Tod aus. Aber das weißt du ja bereits, nicht wahr, Lily Saul?
Schaudernd verließ Lily die Kapelle und eilte mit hallen den Schritten durch das Kirchenschiff zurück zum Ausgang. Als sie wieder im Freien stand, war sie beinahe dankbar für die Hitze. Aber nicht für die Touristen. So viele Fremde mit Kameras. Jeder Einzelne hätte unbemerkt ein Foto von ihr ma chen können.
Sie verließ den Platz vor der Basilika und stieg wieder hinun ter, über die Piazza Salimbeni und vorbei am Palazzo Tolo mei. In dem Gewirr enger Sträßchen verloren Touristen leicht die Orientierung, doch Lily kannte den Weg durch das Labyrinth, und mit schnellen, entschlossenen Schritten näherte sie sich ihrem Ziel. Sie war schon spät dran, weil sie sich zu lange auf dem Hügel aufgehalten hatte, und Giorgio würde sie gewiss schelten. Nicht, dass sie sich davor gefürchtet hätte - Giorgios Geschimpfe hatte noch nie irgendwelche ernsthaften Konsequenzen nach sich gezogen.
Deshalb war ihr auch nicht bange, als sie mit fünfzehnminütiger Verspätung an ihrem Arbeitsplatz eintraf. Das kleine Glöckchen an der Tür läutete, kündigte sie an, als sie den Laden betrat, und sie atmete die vertrauten Gerüche von staubigen Büchern, Kampfer und Zigarettenrauch ein. Giorgio und sein Sohn Paolo saßen hinten im Laden über einen Schreibtisch gebeugt; beide hatten sich Lupen umgebunden. Als Paolo den Kopf hob, starrte ihr ein riesiges Zyklopenauge entgegen.
»Das musst du dir anschauen!«, rief er ihr auf Italienisch zu. »Ist gerade eingetroffen. Ein Sammler hat es uns aus Israel geschickt.«
Sie waren so aufgeregt, dass sie ihre Verspätung gar nicht registrierten. Lily stellte den Rucksack hinter ihren Schreibtisch und zwängte sich an dem antiken Tisch und der Klosterbank aus Eichenholz vorbei. An dem römischen Sarkophag, der jetzt ein entwürdigendes Dasein als provisorischer Aktenschrank fristete. Sie stieg über eine offene Kiste, aus der die Holzwolle auf den Boden quoll, und musterte kritisch den Gegenstand, der auf Giorgios Schreibtisch lag. Es war ein behauener
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