Blutmale
und winkte ihr zu. Wenn er sich überlegt hatte, dass er in Zukunft freundlicher sein wollte, dann hätte er sich wirklich keinen unpassenderen Moment aussuchen können. Bitte sprich mich nicht an , flehte sie stumm. Wehe, du sagst auch nur ein Wort.
»Musst du heute nicht arbeiten?«, fragte er auf Italienisch.
Sie machte kehrt und rannte die Treppe hinunter. Fast wäre sie über die Fahrräder gestolpert, als sie durch die dunkle Gasse flüchtete. Verdammt, ich bin zu spät dran , dachte sie, während sie um die Ecke lief und eine kurze Treppe hinaufhastete. Sie tauchte in einem verwilderten Garten un ter, kau erte sich hinter eine bröckelnde Mauer und verharrte dort reglos, wagte kaum zu atmen. Fünf Minuten, zehn. Sie hörte keine Schritte, kein Geräusch, das einen Verfolger ankün digte.
Vielleicht ist das Streichholz von allein herausgefallen. Vielleicht kann ich doch noch meinen Koffer holen. Mein Geld.
Sie riskierte einen Blick über die Mauer, spähte die Gasse hinauf. Niemand zu sehen.
Soll ich es wagen? Kann ich es wagen?
Lautlos trat sie auf die Gasse hinaus, schlich sich durch schmale Sträßchen bis hinunter an den Rand der Piazzetta. Doch sie trat nicht hinaus auf den offenen Platz, sondern spähte hinter einer Hausecke verborgen zum Fenster ihrer Wohnung hinauf. Die Läden waren offen, so, wie sie sie zurückgelassen hatte. Im Zwielicht der Abenddämmerung sah sie, wie sich hinter dem Fenster etwas bewegte: eine Silhouette, die kurz im Fensterrahmen auftauchte und wieder verschwand.
Mit einem Ruck zog sie den Kopf hinter die Hausecke zurück. Mist. Mist.
Sie öffnete ihren Rucksack und kramte in ihrem Portemonnaie. Achtundvierzig Euro. Genug für ein paar Mahlzeiten und einen Busfahrschein. Vielleicht auch für eine Taxi-fahrt nach San Gimignano, aber nicht viel mehr. Sie hatte eine Scheckkarte, aber sie wagte es nicht, sie zu benutzen, außer in großen Städten, wo sie leicht in der Menge untertauchen konnte. Das letzte Mal hatte sie damit in Florenz Geld abgehoben, an einem Samstagabend, als es in den Straßen von Menschen gewimmelt hatte.
Nicht hier , dachte sie. Nicht in Siena .
Sie verließ die Piazzetta und drang tief in das Labyrinth von Sträßchen und Gassen des Fontebranda-Viertels ein. Hier kannte sie sich am besten aus; hier konnte sie jeden Verfol ger abhängen. Sie gelangte zu der kleinen Espressobar, die sie vor ein paar Wochen entdeckt hatte und in die sich nur Einheimische verirrten. Es war düster wie in einer Höhle, und die Luft war von Zigarettenrauch geschwängert. Sie setzte sich an einen Ecktisch und bestellte ein Tomaten-Käse-Sandwich und einen Espresso. Und dann nach einer Weile noch einen Espresso. Und noch einen. Heute Nacht würde sie ohnehin nicht schlafen. Sie könnte zu Fuß nach Florenz gehen. Wie weit mochte das sein - dreißig, vierzig Kilometer vielleicht? Sie hatte schon einmal auf freiem Feld übernachtet. Hatte Pfirsiche gestohlen und im Schutz der Dunkelheit Trauben gepflückt. Sie könnte es wieder tun.
Sie verdrückte ihr Sandwich bis auf den allerletzten Krümel. Schließlich konnte sie nicht wissen, wann sie wieder etwas zu essen bekommen würde. Als sie endlich das Café verließ, war die Nacht hereingebrochen, und sie konnte sich durch die dunklen Gassen bewegen, ohne allzu große Angst haben zu müssen, dass sie erkannt würde. Es blieb ihr noch eine andere Möglichkeit. Es war riskant, aber es könnte ihr ei nen Vierzig-Kilometer-Marsch ersparen.
Und Giorgio würde es für sie tun. Er würde sie nach Florenz fahren.
Sie ging weiter und weiter, machte einen großen Bogen um die belebte Piazza del Campo, benutzte nur Seitenstraßen. Als sie endlich Giorgios Haus erreichte, schmerzten ihre Waden. Im Schutz der Dunkelheit verharrte sie und sah zum Fenster hinüber. Giorgios Frau war schon vor Jahren gestorben, und er teilte sich die Wohnung mit seinem Sohn. Im Haus brannte Licht, aber sie sah keine Bewegung im Erdgeschoss.
Sie war nicht so töricht, zum Vordereingang zu gehen. Stattdessen lief sie ums Haus herum zu dem kleinen Garten, schlüpfte durch die Pforte und schlich zwischen duftenden Thymian- und Lavendelbeeten hindurch, um an die Küchentür zu klopfen.
Niemand öffnete.
Sie lauschte angestrengt, um zu hören, ob vielleicht der Fern seher lief und ihr Klopfen übertönt hatte. Aber außer den gedämpften Verkehrsgeräuschen von der Straße war nichts zu vernehmen.
Sie drückte die Klinke, und die Tür schwang auf.
Ein Blick
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