Blutmale
Marmorblock, vielleicht ein Teil eines Gebäudes. Sie bemerkte, dass zwei aneinanderstoßende Seitenflächen des Blocks stark verwittert waren, im Lauf der Jahrhunderte durch die Einwirkung von Wind, Regen und Sonne mit einem weichen Glanz überzogen. Es war ein Eckstein.
Der junge Paolo nahm seine Lupe ab, und seine dunklen Haare standen wirr in die Luft. Wie er sie so angrinste, mit diesen ohrähnlichen Haarbüscheln an den Seiten, sah er aus wie einer jener legendären sienesischen Werwölfe, allerdings ein vollkommen harmloser und äußerst charmanter Werwolf. Paolo war ein grundgütiger Mensch, genau wie sein Vater, und hätte Lily nicht gewusst, dass sie irgendwann unweigerlich gezwungen gewesen wäre, ihm das Herz zu brechen, hätte sie ohne Bedenken eine Affäre mit ihm angefangen.
»Ich glaube, dieses Stück wird dir gefallen«, sagte er und bot ihr sein Vergrößerungsglas an. »Das ist genau die Art von Objekt, für die du dich immer schon interessiert hast.«
Sie beugte sich über den Eckstein und studierte die menschenähnliche Gestalt, die in den Marmor gemeißelt war. Sie stand aufrecht, bekleidet mit einem Lendenschurz, geschmückt mit Arm- und Fußreifen. Doch der Kopf war nicht menschlich. Sie schob sich die Lupe über die Stirn und beugte sich noch tiefer hinab. Jetzt konnte sie die De tails erkennen, und ein plötzlicher Schauer überlief sie. Sie sah vorstehende Reißzähne und Finger mit Krallen. Und Hörner.
Lily richtete sich auf. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, und ihre Stimme klang verfremdet. »Du hast gesagt, der Sammler sitzt in Israel?«
Giorgio nickte und nahm seine Lupe ab, worauf eine ältere, fülligere Version von Paolo zum Vorschein kam. Die gleichen dunklen Augen, jedoch umringt von Lachfältchen. »Wir kennen den Mann nicht. Deswegen sind wir uns nicht sicher, was die Echtheit betrifft. Wir wissen nicht, ob wir ihm vertrauen können.«
»Wie kommt es, dass er euch dieses Stück geschickt hat?«
Giorgio zuckte mit den Schultern. »Es ist heute in der Kiste da gekommen. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Will er, dass ihr es für ihn verkauft?«
»Er bittet uns nur um eine Schätzung. Was meinst du?«
Sie rieb mit dem Finger über die verwitterte Fläche. Wieder spürte sie diesen Schauer, wie eine Kälte, die von dem Stein ausstrahlte und unter ihre Haut drang. »Was sagt er über die Herkunft?«
Giorgio griff nach einem Bündel Papiere. »Er schreibt, er habe ihn vor acht Jahren in Teheran erworben. Außer Lan des geschmuggelt, wenn du mich fragst.« Wieder zuckte er mit den Schultern und zwinkerte ihr zu. »Aber was wissen wir denn schon, eh ?«
»Persisch«, murmelte sie. »Das ist Ahriman.«
»Was ist denn Ahriman?«, fragte Paolo.
»Nicht was, sondern wer. Im alten Persien war Ahriman ein Dämon. Der Geist der Zerstörung.« Sie legte die Lupe auf den Tisch und atmete tief durch. »Für sie war er die Verkörperung des Bösen.«
Giorgio lachte und rieb sich triumphierend die Hände. »Siehst du, Paolo? Ich hab's dir doch gesagt, dass sie es weiß. Teufel, Dämonen, sie kennt sie alle. Sie weiß immer die richtige Antwort.«
»Aber warum?« Paolo sah sie an. »Ich habe nie verstanden, warum du dich so für alles interessierst, was mit dem Bösen zu tun hat.«
Wie konnte sie diese Frage beantworten? Wie konnte sie ihm sagen, dass sie schon einmal dem Tier ins Auge geblickt, dass es ihr ins Auge geblickt hatte? Und sie gesehen hatte? Seitdem verfolgt es mich.
»Also ist er echt?«, fragte Giorgio. »Dieser Eckstein?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Dann sollte ich ihm gleich schreiben, eh ? Unserem neuen Freund in Tel Aviv. Und ihm sagen, dass er ihn an den richtigen Händler geschickt hat - einen, der seinen Wert kennt.« Ganz vorsichtig legte er den Stein zurück in die Transportkiste. »Für so eine Rarität finden wir ganz bestimmt einen Käufer.«
Wer möchte schon so etwas Scheußliches im Haus haben? , dachte Lily. Wer will schon in seinen eigenen vier Wänden Tag für Tag von der Verkörperung des Bösen angestarrt wer den?
»Ah, fast hätte ich es vergessen«, sagte Giorgio. »Hast du gewusst, dass du einen Verehrer hast?«
Lily sah ihn stirnrunzelnd an. »Was?«
»Ein Mann - er kam heute Mittag in den Laden und fragte, ob bei mir eine Amerikanerin arbeitet.«
Sie erstarrte. »Was hast du ihm gesagt?«
»Ich habe gerade noch verhindern können, dass Papa irgendetwas sagt«, mischte sich Paolo ein. »Wir könnten Ärger kriegen - schließlich hast du
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