Blutmale
plötzlich bewusst, wie still es in diesem Haus war. Die Tafel war für fünf Personen gedeckt, und doch war sie der einzige Gast, der bislang erschienen war - vielleicht der einzige Gast, der tatsächlich eingeladen worden war.
Sie zuckte zusammen, als er nach ihrem Glas griff und dabei ihren Arm streifte. Er wandte sich ab, um ihr nachzuschenken, und sie starrte seinen Rücken an, sah die Muskeln, die sich unter dem schwarzen Rollkragenpullover abzeichneten. Dann drehte er sich zu ihr um und hielt ihr das Weinglas hin. Sie nahm es, trank aber nicht, obwohl ihre Kehle plötzlich wie ausgetrocknet war.
»Wissen Sie, warum diese Porträts hier hängen?«, fragte er leise.
»Ich finde es einfach nur … sonderbar.«
»Ich bin mit ihnen aufgewachsen. Sie hingen im Haus meines Vaters, und im Haus seines Vaters. Auch das Porträt von Antonino, allerdings immer in einem eigenen Zimmer. Immer an einem Ehrenplatz.«
»Wie ein Altar.«
»Wenn Sie so wollen.«
»Sie halten diesen Mann in Ehren? Diesen Folterer?«
»Wir halten die Erinnerung an ihn lebendig. Wir gestatten uns nie zu vergessen, wer - und was - er war.«
»Warum?«
»Weil das unsere Verantwortung ist. Eine heilige Pflicht, die die Sansones vor vielen Generationen auf sich genommen haben, beginnend mit Isabellas Sohn.«
»Dem Kind, das im Gefängnis zur Welt kam.«
Er nickte. »Als Vittorio das Mannesalter erreichte, war Monsignore Sansone bereits tot. Doch sein Ruf als Ungeheuer hatte sich verbreitet, und der Name Sansone war längst kein Vorteil mehr, sondern vielmehr ein Fluch. Vittorio hätte vor seinem eigenen Namen davonlaufen, seine eigene Abkunft verleugnen können. Doch er tat das genaue Gegenteil. Er nahm den Namen Sansone bereitwillig an, und auch die Belas tung, die er bedeutete.«
»Sie sprachen von einer heiligen Pflicht. Worin bestand diese Pflicht?«
»Vittorio legte ein Gelübde ab, Sühne zu leisten für die Taten seines Vaters. Wenn Sie sich unser Familienwappen anschauen, werden Sie dort die Worte lesen: Sed libera nos a malo. «
Latein. Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Sondern erlöse uns von dem Bösen.«
»Richtig.«
»Und was genau wird von den Sansones erwartet?«
»Den Teufel zu jagen, Dr. Isles. Das ist es, was wir tun.«
Sie zögerte einen Moment, ehe sie antwortete. Das kann unmöglich sein Ernst sein , dachte sie, doch seine Miene war vollkommen unbewegt.
»Sie meinen das natürlich im übertragenen Sinn«, sagte sie schließlich.
»Ich weiß, Sie glauben nicht, dass er tatsächlich existiert.«
»Satan?« Sie musste unwillkürlich lachen.
»Die Menschen haben kein Problem damit, an die Existenz Gottes zu glauben«, sagte er.
»Deswegen spricht man ja auch von glauben . Es bedarf keines Beweises, weil es keinen gibt.«
»Wer an das Licht glaubt, muss auch an die Dunkelheit glauben.«
»Aber Sie sprechen von einem übernatürlichen Wesen.«
»Ich spreche von dem Bösen in seiner reinsten, unverfälschtesten Form. Manifestiert in der Gestalt von realen Wesen aus Fleisch und Blut, die mitten unter uns sind. Hier geht es nicht um den Totschlag im Affekt, um den eifersüchtigen Ehemann, der die Kontrolle verliert, oder den verängstigten Soldaten, der einen unbewaffneten Feind niedermäht. Ich spreche von etwas ganz anderem. Von Wesen, die wie Menschen aussehen, aber nichts Menschliches an sich haben.«
»Dämonen?«
»Wenn Sie sie so nennen möchten.«
»Und Sie glauben wirklich, dass sie existieren, diese Ungeheuer oder Dämonen oder wie immer Sie sie nennen mögen?«
»Ich glaube es nicht, ich weiß es«, antwortete er leise.
Das Läuten der Türklingel ließ sie zusammenfahren. Sie blickte in Richtung Salon, doch Sansone machte keine Anstalten, zur Tür zu gehen. Sie hörte Schritte, und dann die Stimme des Butlers aus der Diele.
»Guten Abend, Mrs. Felway. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
»Ich habe mich ein bisschen verspätet, Jeremy. Tut mir leid.«
»Mr. Stark und Dr. O'Donnell sind auch noch nicht eingetroffen.«
»Noch nicht? Na, dann bin ich ja beruhigt.«
»Mr. Sansone und Dr. Isles sind im Speisezimmer; vielleicht möchten Sie mit ihnen einen Aperitif nehmen.«
»O ja, einen Drink könnte ich jetzt wirklich gebrauchen.«
Die Frau, die zu ihnen ins Zimmer gerauscht kam, war so groß wie ein Mann und sah auch so aus, als könne sie sich mit jedem Mann messen. Ihre breiten Schultern wurden durch einen Tweedblazer mit ledernen Schulterstücken noch zusätz lich betont. Obwohl ihr Haar
Weitere Kostenlose Bücher