Blutmale
Schlussfolgerung. »Ist die Polizei hinter dir her?«
»Nein. Nicht die Polizei …«
»Und vor wem läufst du dann davon?«
Vor dem leibhaftigen Teufel , dachte sie. Doch das konnte sie nicht sagen, sonst hätte er sie für verrückt gehalten. So antwortete sie einfach nur: »Vor einem Mann. Jemand, der mir Angst macht.«
Sie ist von ihrem Freund misshandelt worden - das dachte er wahrscheinlich. Er nickte mitfühlend. »Du brauchst also Geld. Na, komm. Ich kann dir was geben.« Er drehte sich um und wollte ins Schlafzimmer gehen.
»Warte, Filippo.« Schuldbewusst griff sie in ihre Tasche und zog die hundert Euro hervor, die sie aus seiner Sockenschublade genommen hatte. Wie konnte sie einen Mann bestehlen, der sich so verzweifelt nach Gesellschaft sehnte? »Es tut mir leid«, sagte sie. »Das gehört dir. Ich habe es wirklich gebraucht, aber ich hätte es nicht nehmen sollen.« Sie nahm seine Hand und drückte ihm den Schein hinein, wobei sie ihm kaum in die Augen sehen konnte. »Ich komme auch so klar.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Carol. Ist das dein richtiger Name?«
Sie hielt inne, die Hand schon am Türknauf. »Er ist so gut wie jeder andere.«
»Du sagst, du brauchst einen Job. Was kannst du denn?«
Sie sah ihn an. »Ich würde alles tun. Ich kann putzen, bedienen - aber ich muss bar bezahlt werden.«
»Dein Italienisch ist sehr gut.« Er musterte sie nachdenklich. »Ich habe eine Cousine, hier in der Stadt«, sagte er schließ lich. »Sie bietet Führungen an.«
»Was für Führungen?«
»Durch das Forum, die Basilika.« Er zuckte mit den Achseln. »Du weißt schon - alles, was man als Tourist in Rom so gesehen haben muss. Manchmal braucht sie Führer, die Englisch können. Aber sie müssen studiert haben.«
»Das habe ich! Ich habe einen College-Abschluss in Klassischer Altertumswissenschaft.« Die aufkeimende Hoffnung ließ ihr Herz plötzlich schneller schlagen. »Ich weiß eine ganze Menge über Geschichte. Über die Welt der Antike.«
»Aber weißt du auch ein bisschen was über Rom?«
Mit einem Lachen stellte Lily ihren Rucksack wieder ab. »Zufälligerweise ja«, sagte sie.
21
Maura stand auf dem eisglatten Gehsteig und sah zu der Villa auf dem Beacon Hill hinauf, in deren Fenstern das Licht einladend leuchtete. Im Salon flackerte das Kaminfeuer, wie an dem Abend, als sie zum ersten Mal durch diese Tür getreten war, angelockt vom warmen Schein der Flammen, von der Aussicht auf eine Tasse Kaffee. Heute Abend war es Neugier, die sie anzog, als sie die Stufen erklomm, Neugier auf einen Mann, der sie faszinierte und ihr zugleich, wie sie gestehen musste, ein wenig Angst machte. Sie drückte die Klingel und hörte das Läuten von drinnen, hörte es durch Räume hallen, die ihr bisher verborgen geblieben waren. Sie hatte damit gerechnet, dass der Butler ihr öffnen würde, und war überrascht, als plötzlich Anthony Sansone selbst vor ihr stand.
»Ich war mir nicht sicher, ob Sie tatsächlich kommen würden«, sagte er, als sie eintrat.
»Da ging es Ihnen wie mir«, gab sie zu.
»Die anderen kommen ein bisschen später. Ich dachte, es wäre ganz nett, wenn wir beide uns erst einmal in Ruhe unterhalten könnten.« Er half ihr aus dem Mantel und stieß die Tapetentür auf, hinter der die Garderobe versteckt war. Im Haus dieses Mannes bargen selbst die Wände Geheimnisse. »Und warum haben Sie sich dann doch entschieden zu kommen?«
»Sie sagten, wir hätten gemeinsame Interessen. Ich hätte gerne gewusst, was Sie damit meinen.«
Er hängte ihren Mantel auf und wandte sich zu ihr um, eine hoch aufragende Gestalt in Schwarz. Das Kaminfeuer tauchte sein Gesicht in einen goldenen Glanz. »Das Böse«, sagte er. »Das ist es, was wir gemeinsam haben. Wir haben es beide aus nächster Nähe gesehen. Wir haben ihm ins Gesicht geschaut, haben seinen Atem gerochen. Und seinen Blick gespürt.«
»Eine Menge Leute haben es gesehen.«
»Aber Sie haben es auf einer sehr persönlichen Ebene kennengelernt.«
»Sie spielen wieder auf meine Mutter an.«
»Joyce sagte mir, dass bis heute niemand die genaue Zahl von Amaltheas Opfern kennt.«
»Ich habe die Ermittlungen nicht verfolgt. Ich habe mich aus dem Fall herausgehalten. Das letzte Mal habe ich Amalthea im Juli gesehen, und ich habe nicht die Absicht, sie je wieder zu besuchen.«
»Das Böse verschwindet nicht, wenn wir es ignorieren. Es ist immer noch da, immer noch ein Teil Ihres Lebens …«
»Nicht meines Lebens.«
»… bis hin zu Ihrer
Weitere Kostenlose Bücher