Blutmaske
Vitrine gegenüber.
Er hatte den Eindruck gehabt, dass Trenske ihm auffällig lange
auf den kurzen Bart geschaut hatte, der schwarz um Mund und
Unterkiefer stand. »Shit!« Hatte er es doch geahnt: Er war schief
rasiert.
Will stand auf, stellte den Becher ab, nahm sein schärfstes
Messer und ging in das kleine Arbeitszimmer, wo er Gestecke
und Sträuße komponierte. Vor dem Spiegel über dem Handwaschbecken
korrigierte er mit geübten Bewegungen die Linie
des Bartschnitts. Er hasste es, wenn etwas nicht symmetrisch
war, keine Ordnung hatte.
Die Türglocke erklang.
»Ich komme«, rief Will, stutzte eine letzte Kontur und ging
hinaus. Allerdings sah er niemanden, der darauf wartete, von
ihm bedient zu werden.
»Kann ich etwas für Sie tun?« Er ging langsam durch sein
verwinkeltes Geschäft und suchte nach demjenigen, der die
Schelle hatte erklingen lassen. Doch er war allein, wie er bald
darauf feststellen musste. Er hatte selbst im entlegensten Winkel
niemanden entdecken können.
Ein sehr ungeduldiger Kunde
, dachte er schulterzuckend,
nahm die Sprühflasche und benetzte damit die Umgebung der
Orchideen, damit sie sich mit ihren Luftwurzeln das Wasser
ziehen konnten.
»Ach, hier stecken Sie«, sagte plötzlich eine Frauenstimme
hinter ihm.
Will zuckte erschrocken zusammen und machte einen Schritt
zur Seite, während er herumfuhr und instinktiv einen Arm zur
Abwehr hob.
»Hoppla«, lachte ihn eine blonde, etwa vierzigjährige Frau an,
die in einem schicken hellbraunen Kostüm steckte. Um ihren
Hals trug sie eine Doppelkette aus runden schwarzen Edelsteinen.
Sie sah auf seinen halberhobenen Arm. »Wollen Sie mich
etwa schlagen?«
»Verzeihen Sie«, sagte er und stellte die Sprühflasche ab. »Ich
trainiere wohl zu viel.«
»Ach ja, was denn? Karate?«
»Nein. Kalari.«
Sie schaute erstaunt. »Kalahari? Hat das etwas mit Beduinen
zu tun?«
Will lächelte, auch wenn er sich dazu zwingen musste. Er
kannte diese Reaktion, und er hasste sie. »Nein, es ist eine Abkürzung
und hat nichts mit der Kalahari zu tun.« Meistens äußerte er
sich nicht genauer dazu, welchen Kampfsport er betrieb, aber
sein Gegenüber sah ihn so auffordernd an, dass er um eine Antwort
nicht herumkam. »Die vollständige Bezeichnung lautet
Kalarippayat. Es ist eine indische Verteidigungskunst, mit und
ohne Waffen«, erklärte er. »Man sagt, dass es der Ursprung aller
asiatischen Kampfsportarten ist, und es dient mit seinen zahlreichen
Übungen vor allem der mentalen Stärke.«
»Aha. Für Meditation sind die Inder ja bekannt. Die ganzen
Gurus, dazu noch ein paar Drogen, und schon geht man ins
Nirwana ein.«
Will fasste nicht, was er da hörte; sie lächelte übertrieben, als
sei das, was sie von sich gegeben hatte, witzig. Solche Leute
mochte er nicht.
Die Dame musste schon einen
sehr
großen Strauß haben wollen,
um diesen Fehlstart vergessen zu machen. »Wie kann ich
Ihnen helfen?«, fragte er frostig.
»Verzeihen Sie den flapsigen Scherz über Ihr … Kalaharidings.
« Sie räusperte sich verlegen. »Wie war die Bezeichnung
noch mal?«
»Kalarippayat.«
»… Kalarippayat. Davon habe ich noch nie gehört«, räumte sie
ein und streckte die Hand aus. »Mein Name ist Mira Hansen. Ich
bin Maklerin. Immobilienmaklerin.«
Er schlug ein und spürte, dass ihre Haut gepflegt und weich
war. »Was kann ich Gutes für Sie tun?«, fragte er deutlich
freundlicher. »Blumen für einen Kunden?« Er deutete auf den
Tresen, um sie dazu zu animieren, in den helleren, geräumigeren
Teil des Geschäfts zurückzukehren.
Sie bewegte sich nicht und betrachtete stattdessen die Orchideen.
»Nein, es geht mir nicht um Blumen.«
Will kniff die Augen zusammen. »Sind Sie von der Hausverwaltung?
Wenn es sich um eine Mieterhöhung dreht, dann …«
»Nein, nein«, wehrte sie erheitert ab und nahm eine Visitenkarte
aus ihrer kleinen schwarzen Handtasche. »Es geht um etwas
anderes. Um Ihr Haus.«
»Mein Haus? Ich habe kein Haus.«
Kinder des Judas
»Ich spüre nicht nur den Tod – ich bin eine seiner Göttinnen!«
Leipzig 2007: Sie ist die gute Seele eines Krankenhauses. Hier steht sie denen bei, die in ihren letzten Stunden nicht allein sein sollen. Jeder, der die junge Frau am Bett eines Sterbenden wachen sieht, wird sie für einen Engel halten. Denn niemand weiß, wer sie wirklich ist. Oder was.
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PROLOG
20 . November 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 23.59 Uhr
I ch kenne die Melodie des Lebens.
Es ist nicht das
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