Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
Renates Haus schleicht und mich beobachtet. Dass er es keine Sekunde mehr ohne mich aushält. Denn dass ich ihm gefalle, ist nicht zu übersehen. Mit dem Dackelblick, mit dem er mich immer anstaunt, und mit dieser aufgesetzten Ruppigkeit, die er mir gegenüber an den Tag legt, ist er der Prototyp des verliebten Mannes. Und das schmeichelt mir. Nur daran gewöhnen sollte ich mich besser nicht.
Renate hat das Vinyl vom Plattenteller genommen und sich neben mich gesetzt.
»Ist dir schlecht?«, fragt sie.
»Nein, nur ein bisschen schwindelig.«
Immer noch starre ich angestrengt in den Park und kann außer den unscharfen Umrissen mächtiger Baumriesen nicht viel erkennen. Da ist nichts, denke ich. Ich muss mich getäuscht haben.
Renate streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn und kuschelt sich an mich. Die hysterische Euphorie, in die ich mich nach vier Gläsern Champagner und einer halben Stunde Rock-'n'-Roll-Tanzen hineingesteigert habe, ist einer kleinen Depression gewichen, die anfängt, sich zu einer großen auszuwachsen. Die grässlichen Bilder kehren zurück. Die tote Frau, die Schnittwunden, das Blut ...
»Du bist ja ganz blass«, sagt Renate. »Bist du wirklich okay?«
»Aber klar doch«, antworte ich. »Dafür, dass ich heute Mittag heulend vor einer ausgebluteten Leiche gestanden habe, geht es mir fantastisch.«
Meine Freundin greift nach meiner Hand. »Du darfst das nicht so nah an dich heranlassen.«
Seit ich ihr gesagt habe, dass ich die tote Verkäuferin gefunden habe, betütelt sie mich wie eine Mutter ihr Kleinkind. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr davon erzählt hätte, wenn nicht nachmittags ohnehin die Polizei hier gewesen wäre. Es war gar nicht so einfach, Renate davon zu überzeugen, dass nicht ich die undichte Stelle gewesen bin, sondern irgendjemand anders der Polizei von dem Überfall auf sie erzählt haben musste. Was Renate aber am meisten entsetzt hat, ist die Vorstellung, ihr Vater könne durch die polizeilichen Ermittlungen von ihren SM-Neigungen erfahren. Eine Angst, die ihr der Kommissar nicht hat nehmen können. In der Situation fand ich es nicht ratsam, Jochens Siegelring zu erwähnen. Intuitiv weiß ich, dass diese Information einen Sprengsatz enthält, den ich hier und jetzt nicht zünden sollte.
»Renate«, sage ich und drehe mich zu ihr um. »Dabei geht es nicht um mich. Es geht um dich. Der Mann, der dieses Mädchen umgebracht hat, ist mit ziemlicher Sicherheit derselbe, der dich überfallen hat.«
»Ach, Pia.« Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn das stimmen würde, dann hätte er mich doch auch getötet.«
Vielleicht kommt das ja noch, denke ich. Behalte diesen Gedanken aber lieber für mich. Ich will sie nicht unnötig ängstigen. Andererseits macht mich ihre Sturheit wahnsinnig. Von Anfang an hat sie die Möglichkeit, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen geben könnte, weit von sich gewiesen. Und was mich am meisten ärgert, ist diese arrogante Selbstsicherheit, mit der sie das tut. Doch Renate war schon immer eine Meisterin der Verdrängung. Was sie nicht sehen will, das sieht sie einfach nicht.
»Er hat dich nur aus einem einzigen Grund nicht umgebracht«, sage ich. »Jochen ist zu früh zu sich gekommen. Der Typ musste abhauen ...«
»Glaub mir«, unterbricht sie mich und lächelt dieses seltsam abwesende Lächeln, das sie immer dann zur Schau trägt, wenn sie mir signalisieren will, dass wir über Dinge reden, von denen ich keine Ahnung habe. »Wenn man so lange SM betreibt wie ich, dann weiß man, ob man es mit einem Kranken oder mit einem normalen Sadisten zu tun hat.«
»Normaler Sadist«, sage ich verächtlich. »Das ist doch absurd.«
Sie antwortet nicht. Stattdessen rückt sie ein Stück von mir ab.
Nur jetzt keine schlechte Stimmung verbreiten, denke ich.
»Woran merkst du denn, dass du es mit einem normalen Sadisten zu tun hast?«, frage ich versöhnlich.
Sie streicht mit der flachen Hand langsam ihre Hose glatt und lässt mich zur Bestrafung ein bisschen warten.
»Er ist zu weit gegangen«, sagt sie dann. »Das stimmt schon. Das war nicht in Ordnung. Aber es ging ihm nicht nur ums Quälen. Es gab auch Momente von Nähe und von – Zärtlichkeit.«
Ich reiße die Augen auf. »Ich fasse es nicht. Der zerschneidet dir den ganzen Oberkörper und du redest von Zärtlichkeit?«
»Herrgott, Pia!«, faucht sie mich an. »Für Masochisten bedeutet Schmerz etwas anderes als für Menschen, die diese Neigung nicht
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