Blutmond - Wilsberg trifft Pia Petry - Kriminalroman
vergesse.
Als ich das erste Mal von meiner Lektüre hoch- und auf die Uhr sehe, ist eine Stunde vergangen. Beim zweiten Mal sind es schon eineinhalb. Irritiert stehe ich auf. Dracu müsste längst wieder zurück sein. Hat es Ärger mit Jochen gegeben? Auf dem Weg zur Haustür komme ich im Flur an einer weiß lackierten Stahltür vorbei, die mir zuvor nicht aufgefallen ist. Neugierig bleibe ich stehen, ziehe an dem runden Metallknauf, versuche, ihn zu drehen. Doch die Tür rührt sich nicht. Sie wird in den Keller führen, denke ich. Und was wird es da schon geben? Altes Gerümpel, Wasserkästen, Werkzeug. Das Übliche eben. Vielleicht aber auch Blaubarts geheime Kammer? So genau möchte ich das gar nicht wissen.
Ich verdränge den Gedanken und gehe in den kleinen Garten, der zwischen Dracus Haus und dem Vorderhaus, einer Mietskaserne aus der Jahrhundertwende, liegt. Es hat aufgehört zu regnen, von den Bäumen tropft Wasser, auf der nassen Wiese glänzen tausende von winzigen Regentropfen. Was für eine Idylle! Die Luft ist klar und kühl. Von der Straße ist so gut wie nichts zu hören. Man ist mitten in der Stadt und fühlt sich doch, als sei man auf dem Land. Ich laufe über den gepflasterten Weg zur Toreinfahrt, die durch das Haupthaus zur Straße führt. Doch nirgends kann ich Dracus Thunderbird entdecken.
Enttäuscht gehe ich zurück. Als ich mich Dracus Haustür nähere, fällt mir etwas auf. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, wie Dracu mit bürgerlichem Namen heißt. Seltsamerweise habe ich mich auch nie dafür interessiert. Jetzt habe ich zwei Namen zur Auswahl. Auf dem Klingelschild steht: R. Meyer/José Manzini .
Während ich noch überlege, welcher der beiden Dracu gehört, fällt mein Blick auf einen Brief, der im Flur am Boden liegt. Ich hebe ihn hoch. Auf dem Umschlag steht Raoul Meyer . Und sofort weiß ich, wo ich den Namen schon einmal gehört habe.
30
Wilsberg hat einen Verdacht
»Dann wäre ja alles geklärt«, sagte Stürzenbecher, nachdem er den Abschiedsbrief gelesen hatte.
»Das denke ich nicht«, widersprach ich. »Schau dir doch mal die Schrift an! Für mich sieht das so aus, als habe Averbeck unter großem Druck gestanden.«
»Wenn ich mir überlegen würde, mich umzubringen, wäre ich auch etwas nervös.«
»Vergleich den Brief hiermit!« Ich legte eine handschriftliche Notiz, die ich in Averbecks Arbeitszimmer gefunden hatte, neben den Abschiedsbrief.
Der Hauptkommissar musterte mich vorwurfsvoll. »Hast du etwa das Haus durchsucht?«
»Nein, ich habe mich nur nach einer Schriftprobe umgesehen.«
Ich deutete auf den Brief, um ihn von meiner Antwort abzulenken. »Die Bögen sind fast alle zittrig, die Abstände zwischen den Wörtern unterschiedlich groß und die einzelnen Textzeilen schwanken nach oben und unten. Gerade wenn es der letzte Brief wäre, den ich in meinem Leben schreiben würde, würde ich mir etwas mehr Mühe geben.«
»Wo hast du dich überall nach einer Schriftprobe umgesehen?«, fragte Stürzenbecher.
»Und dann diese kitschigen Formulierungen«, fuhr ich fort. » Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich bedauere ... Ich allein trage die Verantwortung dafür, dass anderen Menschen Leid zugefügt wurde. Entschuldige, der Mann schreibt den Brief an seine Frau, mit der er fünfzehn Jahre verheiratet ist. Aber das Geschwafel klingt wie aus einem Roman von Rosamunde Pilcher.«
Stürzenbecher grunzte. »Ich bitte dich, Wilsberg! Seit wann müssen Abschiedsbriefe literarisch sein?«
»Und warum unterschreibt er mit seinem vollen Namen?«, brachte ich mein letztes Argument vor. »Er beginnt mit Geliebte Renate, logischerweise hätte er mit Jochen enden müssen.«
»Ihm war klar, dass der Brief ein Dokument ist. Nicht nur für seine Frau bestimmt, sondern auch für uns.«
»Eben«, konterte ich. »Der Brief ist gar nicht an seine Frau gerichtet. Er dient einzig und allein dazu, der Polizei einen Mörder zu präsentieren.«
»Du willst also darauf hinaus ...«
»... dass er dazu gezwungen wurde, diesen Brief zu schreiben«, brachte ich den Satz zu Ende.
»Sie müssen Pia Petry suchen«, mischte sich Cornfeld ein, der die ganze Zeit neben uns gestanden und mit wachsender Unruhe zugehört hatte. »Falls das stimmt, was Herr Wilsberg sagt, hat Frau Petry vielleicht alles mitbekommen. Sie würde für den Täter eine Gefahr darstellen und er könnte versuchen, sie ...«, er erschrak über die Konsequenz seines Gedankens, »... zu
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